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In Zeiten der Flut

In Zeiten der Flut

Titel: In Zeiten der Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Swanwick
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Hexe geliebt. Sie ... aber Sie wollen die Geschichte bestimmt nicht hören. Sie gleicht Ihrer eigenen. Sehr sogar. Sie wurde ertränkt, als ich ... Nun ja. Es gibt halt keine neuen Geschichten, nicht wahr? Wer sollte das schließlich besser wissen als ich?«
    Ohne die Tänzerin innehalten zu lassen, senkte er halb die Lider und lehnte sich an die Wand. Die Wand war mit Puppen bedeckt, die in Plastikfolie verpackt waren und so dicht aneinandergepreßt waren, daß ein Entkommen unmöglich schien. Es war ein Museum der Marionettenkunst. Da waren Punch und seine Frau Judy, sein Vetter Pulcinello, der leichenblasse Pierrot, der berühmte Harlekin und die reizende Columbine, Tricky Dick, Till Eulenspiegel, der brave Kosmonaut Minsk, all die uralten archetypischen Schufte und Helden, die darauf warteten, wieder einmal auf Zeit zum Leben zu erwachen. »Ist Ihnen klar, daß das Puppenspiel die reinste Form des Theaters darstellt?«
    »Die einfachste, meinen Sie wohl.«
    »Einfach! Probieren Sie's doch, wenn Sie glauben, es wäre so leicht! Nein, die reinste, finde ich. Hier sitze ich, der Schöpfer, und dort sitzen Sie, der Zuschauer. Unsere Seelen sind verschieden, sie können einander nicht berühren. Aber da ist diese kleine Puppe zwischen uns.« Die Dame glitt vor und vollführte einen Knicks; das Kleid fegte über den Boden, dann richtete sie sich so mühelos wieder auf wie ein Blatt im Wind. »Teilweise existiert sie in meiner Vorstellung und teilweise in Ihrer. Im Moment überlappen sich beide.« Seine Hände tanzten, und mit ihnen die Metallfigur. Der Bürokrat blickte zwischen dem Mann und der Puppe hin und her, ohne sich ganz auf einen von beiden konzentrieren zu können.
    »Schauen Sie«, staunte Mintouchian. Die Puppe erstarrte. »Sie hat kein Gesicht, kein Geschlecht. Aber jetzt sehen Sie sich das mal an.« Die Puppe hob kokett den Kopf und blickte den Bürokraten von der Seite an. Ihr Körper verlagerte Fleisch zu den Hüften, die auf einmal ausgeprägt weiblich wirkten. Als der Bürokrat von der Puppe zu Mintouchian hochschaute, blickte dieser ihm durchdringend in die Augen. »Wissen Sie, wie das Fernsehen funktioniert? Der Bildschirm ist in horizontale Zeilen unterteilt, und der Abtaster wirft immer zwei Zeilen eines Bildes auf den Schirm, dann überspringt er zwei Zeilen, dann zeichnet er wieder zwei, von oben nach unten. Dann kehrt er zum Anfang zurück und füllt die Zeilen auf, die er beim erstenmal ausgelassen hat. So daß man das ganze Bild eigentlich nie auf einmal sieht. Sie setzen es in Ihrer Vorstellung zusammen. Von Zeit zu Zeit hat man mit holografischen Bildschirmen experimentiert, aber die Leute wollten sich nicht daran gewöhnen. Ihnen fehlte das zwanghafte Element des ursprünglichen Fernsehens. Sie stellten nämlich nur Bilder bereit. Sie verleiteten das Gehirn nicht zur Mitarbeit an der Verletzung der Realität.« Die Puppe tanzte leicht und anmutig.
    Der Bürokrat hatte trockene Lippen und einen eigenartigen, prägnanten Geschmack im Mund. Er hatte Mühe, den Erklärungen des Puppenspielers zu folgen. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich Ihnen folgen kann.«
    Die goldene Frau hob eine Schulter an und warf dem Bürokraten einen vorwurfsvollen Seitenblick zu. Mintouchian lächelte. »Wo hat diese Illusion zuvor existiert? In meinem Geist oder in Ihrem? Oder existiert sie immer noch in dem Zwischenraum, in dem sich unserer beider Vorstellung miteinander vermengt?«
    Als er die Hände hob, löste sich die Frau in einen Schauer goldener Ringe auf.
    Der Bürokrat sah zu Mintouchian auf, und noch immer wirbelten und fielen die Ringe in seinem Geist. Er schloß die Augen und sah sie in der Schwärze immer noch fallen. Er wurde sie auch dann nicht los, als er die Augen wieder öffnete. Das Innere des Lastwagens wirkte bedrückend eng, und dann wieder schien es, als sei er gar nicht vorhanden. Er pulsierte, schien sich um den Bürokraten abwechselnd zu öffnen und zu schließen. Ihm war übel. Vorsichtig sagte er: »Irgendwas stimmt nicht mit mir.«
    Mintouchian aber hörte nicht mehr zu. In versonnenem, trunkenem Ton sagte er: »Manchmal werde ich gefragt, wie ich zu dem Beruf gekommen bin. Ich weiß es nicht. Meistens antworte ich darauf: Warum sollte jemand Gott spielen wollen? Zieh ein Gesicht und zuck die Achseln. Bisweilen aber glaube ich, der Grund war, daß ich mich der Existenz anderer Menschen versichern wollte.« Er blickte durch den Bürokraten hindurch, als wäre er allein und redete mit

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