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In Zeiten der Flut

In Zeiten der Flut

Titel: In Zeiten der Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Swanwick
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über die Lippen. Auf einmal lief dem Bürokraten ein kalter Schauer über den Rücken.
    »Das ist ja verrückt«, sagte er. »Es ist ausgeschlossen, daß wir uns unterhalten.«
    »Warum das?«
    »Die Drule sind vor mehreren hundert Jahren ausgestorben.«
    »Es gibt nicht mehr viele von uns, das stimmt. Wir standen kurz vor dem Aussterben, ehe wir lernten, in den Nischen eurer Gesellschaft zu überleben. Unser Aussehen physisch zu verändern, fiel uns natürlich leicht. Doch als Mensch durchzugehen, euer Geld zu verdienen, ohne eure Aufmerksamkeit zu erregen, ist mehr als nur eine Herausforderung. Wir sind gezwungen, uns unter den Armen zu verbergen, in den Barackensiedlungen am Rande der landwirtschaftlichen Nutzflächen und in mannigfaltigen Behausungen in den schlimmsten Gegenden des Schwemmdeltas.
    Aber genug davon.« Der Fuchs stand auf, reichte ihm die Hand und zog den Bürokraten auf die Beine. Er half ihm ins Jackett und reichte ihm seine Aktentasche. »Sie müssen jetzt gehen. Eigentlich sollte ich Sie töten. Aber unsere Unterhaltung war so interessant, besonders der erste Teil, daß ich Sie laufen lasse.« Er öffnete den Mund und entblößte Reihe um Reihe scharfer Zähne.
    »Laufen Sie!« sagte er.

    Er war so lange durch den Wald gerannt, hatte sich Tunnelwege durch flaumweiche Torbögen gebahnt, war in Türme aus stachligen und gefiederten Tentakeln hineingestolpert, die lautlos über ihm zusammenbrachen, daß dieser Zustand inzwischen selbstverständlich geworden war, ebenso natürlich und unbestritten wie jeder andere. Dann schmolz alles um ihn herum, und er fand sich auf einem Friedhof wieder, unter ineinandergewachsenen, wieder zum Leben erwachten Skeletten, darunter Brustkästen, aus denen Pilzwesen hervorwuchsen, Becken, aus denen bleiche Phalli sprossen, und gekrümmte Vaginas. Die Toten waren als Monster wiederauferstanden, als an Hüfte und Kopf miteinander verbundene Zwillinge und Drillinge, ganze Familien wurden von einer schaumigen Masse erdrückt, von oben lugte ein einzelner Totenschädel herunter, das rotbemalte Gebiß weit aufgerissen, als lachte oder schreie es.
    Dann verschwand auch dies alles, und er taumelte über eine leere, ebene Fläche. Keuchend blieb er stehen. Der Boden war steinhart. Nichts wuchs darauf. An einer Seite vernahm er die aufgeregte Wassermusik des überfluteten Cobbs Creek, das begierig darauf war, mit dem Fluß zu verschmelzen. Das mußte der Grabungsort sein, überlegte er, ein Quadrat von zweihundert Metern Seitenlänge, das mit Stabilisatoren im Muttergestein verankert war, nachdem man nicht weniger als drei versiegelte Navigationsbaken in seiner Mitte vergraben hatte, als Vorkehrung gegen den Anbruch einer neuen Zeit. Er atmete keuchend, seine Lungen brannten. Bin ich gerannt? überlegte er, dann, als ihm einfiel, daß Undine tot war, überwältigte ihn das tote Gewicht der Nutzlosigkeit.
    »Ich habe ihn gefunden!« rief jemand.
    Eine Hand legte sich auf seine Schulter. Als er sich langsam umdrehte, traf ihn ein Faustschlag ins Gesicht.
    Mit ausgebreiteten Armen fiel er der Länge nach hin. Sein Kopf prallte auf den Boden. Mit dumpfem, allumfassendem Erstaunen fühlte er, wie ein Stiefel gegen seinen Brustkasten trat. »Uuuh!« Er stieß pfeifend den Atem aus, und die knirschende Dunkelheit des granitharten Bodens drehte sich von der Wucht des Aufpralls. Irgend etwas lockerte sich und brach.
    Drei dunkle Gestalten standen über ihm, in unterschiedlichen, wechselnden Tiefenebenen gestaffelt, während sich die räumlichen Beziehungen zwischen ihnen und ihm mit jeder Bewegung neu ordneten. Eine von ihnen mochte eine Frau sein. Er war sich der Möglichkeiten zu deutlich bewußt, und seine Aufmerksamkeit war zu flüchtig und unstet, als daß er es hätte genau erkennen können. Sie tanzten um ihn herum und vervielfältigten sich dabei, zogen dunkle Nachbilder hinter sich her, bis er in einen Käfig von Feinden eingesponnen war. »Was ...«, krächzte er, »was wollt ihr von mir?«
    Seine Stimme dröhnte und hallte wider, sie drang aus einer weiten Ferne zu ihm wie der Klang einer versenkten Glocke, die am Grund des Meeres schlug. Der Bürokrat versuchte die Arme zu heben, aber sie reagierten nur ganz langsam. Er war reines Bewußtsein, das im Kopf eines in Granit gehauenen Riesen beheimatet war.
    Sie prügelten mit tausend Fäusten auf ihn ein, die sich wellenartig bewegten, gegenseitig überlappten und Schmerzen nach sich zogen. Dann hörte es auf einmal auf.

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