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In Zeiten der Flut

In Zeiten der Flut

Titel: In Zeiten der Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Swanwick
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in Green Hill, Dr. Orphelin hingegen ...«
    »Ist hier.«
    Er stand in der Tür, so als posierte er für ein Erinnerungshologramm; ein schlanker Mann in einer blauen Jacke von militärischem Schnitt, mit zwei Reihen von Goldknöpfen. Dann näherte er sich über den ausgelatschten weißen Pfad in der Mitte des Teppichs, vorbei an einem dekorativ am Bücherregal aufgestellten verrottenden Raumanzug, dem Diwan und ließ seine schwarze Tasche auf den Boden fallen. Seine Hände waren mit Tätowierungen übersät.
    »Sie wurden unter Drogen gesetzt«, sagte der Arzt munter, »und ein Diagnostiker könnte Ihnen auch nicht helfen. Die medizinischen Besonderheiten unseres Heimatplaneten fehlen in seiner Datenbank. Wozu wären sie auch gut? Synthetische Medikamente leisten ebensoviel wie natürliche, und sie lassen sich bei Bedarf herstellen. Aber wenn Sie verstehen wollen, was mit Ihnen passiert ist, dann sollten Sie nicht eine Ihrer ekelhalften Maschinen zu Rate ziehen, sondern jemanden wie mich, der solche Pflanzen jahrelang studiert hat.« Er hatte ein schmales, asketisches Gesicht mit hohen Wangenknochen und kalten Augen. »Ich werde Sie jetzt untersuchen. Sie brauchen mir kein Wort zu glauben. Jedenfalls bedarf ich bei der Untersuchung Ihrer Mitwirkung.«
    Der Bürokrat kam sich dumm vor. »Also gut.«
    »Ich danke Ihnen.« Orphelin nickte Mutter Le Marie zu. »Sie können jetzt gehen.«
    Die alte Frau machte erst ein verblüfftes, dann ein beleidigtes Gesicht. Sie reckte das Kinn und stolzierte hinaus. Warum willst du deinem Onkel nicht sagen, wer der Vater ist? fragte jemand, und eine junge Frau antwortete in gequältem Ton: Weil es keinen Vater gibt!, dann wurde die Stimme von der zufallenden Tür verschluckt.
    Orphelin hob die Lider des Bürokraten an, leuchtete ihm mit einer kleinen Lampe in die Ohren, nahm einen Abstrich von seiner Zunge und tat ihn in einen Analysator. »Sie sollten ein wenig abnehmen«, bemerkte er. »Wenn Sie möchten, unterweise ich Sie in einer ausgewogenen Diät von realer und Zaubernahrung. Der Bürokrat blickte unverwandt auf einen Strauß rosafarbener, an den Rändern spröde und braun gewordener Seidenrosen und gab keine Antwort.
    Schließlich war die Untersuchung beendet. »Hm. Nun, es dürfte Sie nicht überraschen, zu erfahren, daß Sie eine Vielzahl von Neurotoxinen zu sich genommen haben. Dafür kämen mehrere in Frage. Hatten Sie Halluzinationen oder Sinnestäuschungen?«
    »Worin besteht der Unterschied?«
    »Eine Sinnestäuschung beruht auf einer Fehlinterpretation tatsächlich vorhandener Sinnesdaten, während man bei einer Halluzination etwas sieht, das gar nicht vorhanden ist. Erzählen Sie mir, was Sie vergangene Nacht gesehen haben. Aber bitte« - er hob die Hand - »bloß die Höhepunkte. Für einen ausführlichen Bericht habe ich weder die Zeit noch die Geduld.«
    Der Bürokrat erzählte ihm von den Riesenfrauen, die im Fluß umhergewatet waren.
    »Halluzinationen. Haben Sie geglaubt, sie seien wirklich?«
    Er dachte nach. »Nein. Aber sie haben mir Angst gemacht.«
    Orphelin lächelte schwach. »Sie wären nicht der erste Mann, der sich vor Frauen fürchtet. Ach, schweigen Sie, das war bloß ein Scherz. Was haben Sie noch gesehen?«
    »Ich habe mich mit einem fuchsgesichtigen Drul unterhalten. Aber der war real.«
    Der Arzt schaute ihn seltsam an. »Tatsächlich?«
    »Aber ja. Da bin ich mir ganz sicher. Später hat er mich zum Hotel zurückgetragen.«
    Ihm wurde wieder übel, und das Zimmer gewann eine übersteigerte Klarheit und Schärfe. Er vermochte jede einzelne Teppichfaser zu erkennen, und noch die kleinste aufgedröselte Franse des Diwans sprang ihm ins Auge. Er fühlte sich erhitzt, und der Finger, den Undine tätowiert hatte, brannte.
    An der Tür wurde geklopft.
    »Ja?« sagte der Bürokrat.
    Chu streckte den Kopf herein und sagte: »Entschuldigen Sie, aber die Autopsie ist beendet, und Sie müssen den Bericht bestätigen.«
    »Bitte treten Sie ein«, meinte Orphelin. »Außerdem brauche ich jemanden zur Unterstützung.« Chu sah zum Bürokraten, dann zuckte sie die Achseln, zog den Kopf zurück und unterhielt sich auf dem Gang mit den Wachposten. Der größere schüttelte den Kopf. »Warten Sie«, sagte Chu. Kurz darauf kehrte sie mit Mintouchian im Schlepptau zurück. Er ähnelte mehr einem Hund als einem Menschen, sein Gesicht war aufgedunsen und rosarot, seine Augen waren traurig und blutunterlaufen.
    »An der Sache ist mehr dran, als ich zunächst dachte.«

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