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In Zeiten der Flut

In Zeiten der Flut

Titel: In Zeiten der Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Swanwick
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kleinen schwarzen Sternen trug, auf die Zehenspitzen stellte und nach der Kiste griff, bekam es einen Klaps auf die Hand. Mintouchian, der nah genug stand, um hineinsehen zu können, klappte hastig den Deckel zu und wickelte das Tuch wieder darum. »Nichts für dich.« Er hörte sich furchtbar an, wie eine Bandaufzeichnung, die mit der falschen Geschwindigkeit abgespielt wurde, falsch und irgendwie unmenschlich.
    Hektische Aktivität. Zwei Männer rannten nach draußen. Ein Sessel wurde vorgeschoben, und Le Marie drückte ihn hinein. »Ich rufe die Polizei«, sagte Chu. »Sobald der Regen aufhört, können sie ein Labor herschaffen.« Jemand gab dem Bürokraten einen Drink, den er in einem Zug hinunterstürzte. »Mein Gott«, sagte er. »Mein Gott.« Anubis kam unter dem Tisch hervor und leckte seine Hand.
    Die Männer, die nach draußen gerannt waren, kamen klitschenaß zurück. Hinter ihnen fiel die Tür ins Schloß. »Niemand draußen«, meinte einer.
    Noch mehr Kinder strömten herein. Mutter Le Marie brachte die Kiste eilends auf dem Küchenschrank in Sicherheit. »Was ist da drin?« erkundigte sich einer der Einheimischen von der anderen Seite der Küche.
    »Undine«, sagte der Bürokrat. »Undines Arm.« Er brach in Tränen aus, was ihm fürchterlich peinlich war.

    Trotz seines schwachen Protests geleitete man ihn auf sein Zimmer, legte ihn aufs Bett, zog ihm die Schuhe aus. Jemand stellte die Aktentasche neben ihm ab. Tröstliche Worte murmelnd, ließ man ihn allein. Ich werde bestimmt nicht schlafen können, dachte er. Im Zimmer roch es nach Moder und alter Farbe. Die Wände und der Spiegel waren mit Fliegendreck übersät, von den Fliegen, die nachts vom Fieberwind hereingeweht wurden, über den Rand des Fensters, das sich nicht ganz schließen ließ. Auch jetzt wehte der Wind durch den schmalen Spalt und bewegte die Vorhänge. Zweifellos würde es niemals repariert werden.
    Das dumpfe Tosen des Wassers auf dem Dach hörte allmählich auf, als der Sturm sich legte. Der Regen verwandelte sich in einen Nieselregen und schließlich in Nebel.
    Eine Stimme löste sich aus der Küchenunterhaltung und drang bis in sein Zimmer. »Pilzregen«, sagte sie leise.
    Der Bürokrat konnte nicht schlafen. Das Kissen war hart und schien zu summen, so erschöpft war er. Sein Schädel war mit grauer Watte ausgestopft. Nach einer Weile stand er auf, nahm die Aktentasche und ging nach draußen, ohne Schuhe und unbemerkt von den anderen.
    Der Regen war so fein, daß die Tropfen in der Luft zu schweben schienen; sie dämpften die Geräusche und versilberten eine verwandelte Welt. Durchscheinende blaue Pollenschläuche wölbten sich über der Straße. Kleine violette Mandolinen sprossen aus den Eingängen, und die Dächer waren mit einem zarten Netzwerk aus gelbbraunen, rosafarbenen und blaßgelben Phantasiegebilden bedeckt. Pilzregen. Die schaumigen Gebilde wurden zusehends größer.
    Die Häuser hatten sich in alptraumhafte Burgen verwandelt, die mitten im Übergang zu organischem Leben begriffen waren. Wie eine Krabbe huschte er an den schwankenden Sprößlingen vorbei, streifte zierliche Spitzenfächer beiseite, die bei seiner Berührung zerkrümelten. Vor ihm war ein warmer, orangefarbener Schein auf der Straße, darauf hielt er zu.
    Das hellerleuchtete Rechteck war die offene Hecktür vom Lastwagen des Neugeborenen Königs. Er trat ein.
    Mintouchian saß hinter einem kleinen Klapptisch, auf dem ein gelber Lichtkreis lag. Darin tanzte eine kleine Frau aus Metall.
    An Mintouchians Fingern waren die Sensoren einer Fernsteuerung befestigt. Er schwenkte die Hände hin und her, wodurch sich die Felder verzerrten und wechselseitig durchdrangen. »Ach, Sie sind's. Konnten wohl nicht schlafen, wie?« sagte er. »Ich auch nicht.« Er deutete mit dem Kopf. »Nettes kleines Ding, finden Sie nicht?«
    Bei näherem Hinsehen bemerkte der Bürokrat, daß die Frau aus Tausenden von unterschiedlich großen Goldringen bestand, so daß Arme, Beine und Torso sich lebensecht verjüngten. Ihr Kopf war glatt und nichtssagend, deutete jedoch hohe Wangenknochen und ein schmales Kinn an. An ihrer Hüfte war ein Stoffponcho befestigt, der lang genug war, um ein Kleid vorzustellen. Als Mintouchian die Hände hochriß, wirbelte es empor.
    »Ja.« Die goldene Frau bewegte ihre Arme mit unglaublicher, tausendgelenkiger Geschmeidigkeit. »Was machen Sie da?«
    »Ich denke nach.« Mintouchian stierte blicklos ins Licht. »Vor langer Zeit habe ich mal eine

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