In Zeiten der Flut
Zahl. Bunte Schmarotzerblumen schwankten über ihren Rückenschalen und überzogen den Waldboden mit einem sich kräuselnden Teppich vielfarbener Blütenblätter; es war, als blickte man durchs klare Salzwasser des Ozeans auf einen Unterwassergarten hinunter.
Mintouchian fluchte und stieg auf die Bremse. Der Neugeborene König kam schleudernd zum Stehen. Chu holte einen Zigarillo hervor und steckte ihn sich in den Mund. »Tja, jetzt sitzen wir erstmal fest. Könnte ebensogut aussteigen und mir ein bißchen die Beine vertreten.«
Eine kleine Umsiedlerschar, die Insassen von drei weiteren Lastern - der Herr der Drule, Glückliche Mathilde und Löwenherz - sowie ein paar Dutzend Fußreisende warteten geduldig, bis der Krabbenschwarm vorbei war. Einige hockten aufgereiht wie Krähen auf dem niedrigsten Ast eines Großvaterbaums und stierten einen in einer Astgabel eingeklemmten blauen Lichtflecken an. »Sieh sich das mal einer an«, meinte Mintouchian. »Als ich klein war, erzählten sich die Leute Geschichten, wenn sie auf einer solchen Straße aufgehalten wurden, manchmal stundenlang an einem Stück; Gespenstergeschichten, Familiengeschichten, Fabeln, Heldensagen, Hausmärchen, dreckige Witze, Prahlereien, alles, was man sich nur denken kann. Damals war es, als lebte man in einem Meer von Geschichten. Es war wunderbar.« Angewidert schaltete er mit einer ausladenden Bewegung seiner fleischigen Hand den im Armaturenbrett eingelassenen Fernseher ein und lehnte sich zurück.
Chu kletterte aus der Fahrerkabine, stützte sich mit dem Ellbogen auf die Motorhaube und blickte in die Ferne. Der Bürokrat folgte ihr.
Er fühlte sich losgelöst von allem. Er hatte sich im Palast der Rätsel zu sehr ausgedünnt, und nun litt er an einer Erschöpfung des Wahrnehmungsvermögens, vielleicht der Vorbote einer relativistischen Erkrankung, für die all jene, welche in der konventionellen Realität arbeiteten, besonders anfällig waren. Alles kam ihm unwirklich vor, so als läge nur ein hauchdünner Film des Scheins über einer dunkleren, verborgenen Wahrheit. Die Welt vibrierte von kaum wahrnehmbaren Spannungen, als ob jeden Moment etwas zum Ausbruch gelangen könnte. Er wartete darauf, daß sich Fenster im Himmel auftaten, Türen in den Bäumen und Löcher im Wasser. Auf die unsichtbaren bösen Geister, die sich an diesem Ort aufhalten mochten, um sich irgendwann zu manifestieren. Aber natürlich taten sie es nicht.
Er stellte seine Aktentasche aufs Trittbrett. »Ich mache einen Spaziergang.«
Chu nickte. Mintouchian sah nicht einmal von seinem Programm auf.
Er wanderte tiefer in den Großvaterbaum hinein, sorgsam darauf bedacht, den vereinzelten Krabben auszuweichen, Vorreiter des Hauptstroms, der unbewußt bemüht war, Übereinstimmung über die Marschrichtung zu erzielen. Der Strom der Orchideenkrabben hatte sich geteilt und ihn inmitten einer Insel der Ruhe zurückgelassen. Der Baum über ihm war ein prachtvolles Exemplar, seine riesigen Äste ragten waagerecht vom Hauptstamm ab und sandten in unregelmäßigen Abständen Nebenstämme in die Tiefe, so daß der eine Baum den Umfang und die Vielschichtigkeit eines ganzen Gehölzes hatte.
Er erinnerte sich gehört zu haben, Großvaterbäume seien selten. Dieser hier war ein Überlebender, ein Solitär, ein einsames Überbleibsel aus den Anfängen des Großfrühlings. Aus den tief in seinem Innern verborgenen Samen würde eines Tages wenn nicht ein neues Baumvolk, so doch wenigstens eine Nation innerhalb dieses Volks entstehen.
Eine baufällige Treppe wand sich um den Stamm, mit Absätzen, von denen Brettersteige über die Äste ins Blätterdickicht führten. Früher waren sie einmal bemalt gewesen, rot und grün, gelb und orange, doch die fröhlichen Farben waren verblaßt, waren ausgebleicht von tausend Sonnen und mittlerweile so fahl wie die Gerippe auf dem Friedhof einer verlassenen Kirche. Kleine Schilder wiesen den Weg zu diesem Ast oder jener mit Geländern versehenen Aussichtsplattform: DAS SCHIFF. ABELARD'S AUSSICHTSPUNKT. FRISCHE AALE. JULES SEE. DER HORST. AROMATISIERTE BIERE.
Mehr von einer Sogwirkung als von seinem Willen nach oben gezogen, stieg er die Treppe empor.
Ein Betrunkener schwankte an ihm vorbei nach unten. In der vergeblichen Absicht, zur allgemeinen Verschönerung beizutragen, hatte man bizarre Treibholzstücke ans Geländer genagelt, und an den Pfosten lehnten pastellfarbene Muscheln.
Auf dem dritten Absatz hielt der Bürokrat inne und überlegte,
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