In Zeiten der Flut
ging aufmachen. Eine Frau stand draußen mit strengen, gleichwohl angenehmen Zügen, die ihr ähnlich sah. »Goguette! Komm rein, gib mir deinen Anorak. Hast du schon gefrühstückt? Was führt dich denn schon so früh hierher?«
»Ich hätte gern einen Beerentee.« Goguette setzte sich an den Tisch. »Ich möchte die Große Flut mit meiner kleinen Schwester gemeinsam erleben. Du hast doch nichts dagegen, oder?«
»Aber wieso denn. Oh! Mousket ist an Deck!«
Eine hochgewachsene uniformierte Gestalt mit heroisch geschwellter Brust wurde eingeblendet, mit einem harten Mund und finsteren Absichten. »Mousket«, sagte Goguette. »Sie ist die Kommandantin, nicht wahr?«
»Ja. Sie hat eine Affäre mit dem Piloten.« Ein rascher Blick eines hageren, gutgebauten Mannes mit zynischen Augen. Zum Bürokraten gewandt sagte sie: »Er lebt äußerst zurückgezogen. Der öffentliche Charakter ihrer Beziehung ist ihm peinlich; sie demütigt und ärgert ihn. Das macht es für sie nur noch reizvoller. Sie weidet sich an seiner Erniedrigung.«
»Verzeihen Sie«, sagte der Bürokrat. »Aber woher wissen Sie das alles?«
»Haben Sie denn meine Ohrringe noch nicht bemerkt?« Marivaud streifte einen Vorhang aus Zöpfen zurück und enthüllte ein rosa- und cremefarbenes Ohr. Daran baumelte ein bernsteinfarbenes Blatt, mit silbernen Adern und so zart wie ein Drachenflügel. Das Bild wurde größer, bis der Bürokrat die darin eingelassenen Geräte erkennen konnte; einen Fernsehempfänger, einen Signalprozessor und einen Neuronenkoppler. Es war eine simple, aber elegante Vorrichtung, die ihr mühelos sämtliche elektronischen Errungenschaften zugänglich machte; sie konnte sich nach Belieben mit Freunden unterhalten, Unterhaltungssendungen empfangen, einen besonders eindrucksvollen Sonnenaufgang festhalten, eigenhändig das Gemälde eines alten Meisters kopieren, Recherchen anstellen, an Fortbildungskursen teilnehmen oder sie leiten und ihre Träume einer Computeranalyse unterziehen lassen. Es machte ihr Gehirn zu einer Schnittstelle in einem unsichtbaren Reich der Interaktivität, zum perfekten Zentrum eines Kreises von so gewaltigen Ausmaßen, daß sein Mittelpunkt überall war, sein Umfang nirgends.
»Nicht mal die Außenweltler hatten so etwas«, sagte sie. »Wir haben die totale Vernetzung zu einem einzigen Kontinuum als erste verwirklicht. Es war, als lebte man in zwei Welten gleichzeitig, als führte man ein zweites, verborgenes Leben. Damals habt ihr Außenweltler diesen sperrigen Palast der Rätsel erbaut. Unsere Methode war die überlegene. Wenn der Atlantis -Zwischenfall nicht gewesen wäre, wärt ihr jetzt ein Teil davon.«
»Mein Gott, Sie reden ja vom Trauma!« rief der Bürokrat entsetzt. »Es war ein Schiff daran beteiligt - das muß die Atlantis gewesen sein! Sämtliche Besatzungsmitglieder waren verkabelt und ständig auf Sendung.«
»Wollen Sie sich die Geschichte nun anhören oder lieber selbst erzählen? Ja, natürlich bestand die Besatzung nur aus Schauspielern, aus Improvisateuren -wie nennt man noch gleich Leute, die ein vorstrukturiertes Leben führen, um öffentliche Dramen zu schaffen?«
»Ich glaube, so etwas gibt es bei uns nicht mehr. Was machen die eigentlich mit den Drulen?«
»Pflanzen ihnen Sendechips ein. Was dachten Sie denn, worum es bei diesem Projekt geht?«
»Warum sollte man so etwas hm?«
»Genau das frage ich mich auch!« meinte Goguette. »Es gibt so viele kultivierte, pädagogisch wertvolle und bereichernde Erfahrungen im Netz. Warum sollte man sein Leben damit vergeuden, daß man Wesen belauscht, die kaum mehr als Tiere sind?«
»Aber was für wundervolle Tiere!« Marivaud kicherte. »Doch wir schweifen ab. Sie ...« - sie wandte sich unmittelbar an den Bürokraten - »können nur den mittleren Bereich miterleben. Die kleinen Dinge entgehen Ihnen, das Brennen eines Seils in einer aufgeschürften Hand, der Geruch des Ozeans, die Kühle der Salzbrise, die über Ihren Arm weht. Und die großen Emotionen empfinden Sie nur von außerhalb mit. Wir können nur einen Bruchteil davon mit Ihnen teilen. Darum möchte ich Ihnen zwei untergeordnete Darsteller vorführen, einen Gespensterfänger und eine Blitzchirurgin. Ihre tatsächlichen Namen sind verlorengegangen, darum taufe ich den Gespensterfänger auf den Außenweltlernamen Underhill. Die Blitzchirurgin werde ich ... Gogo nennen, nach meiner Schwester.«
Goguette boxte sie auf die Schulter, Marivaud lachte, und dann verschwanden sie. An
Weitere Kostenlose Bücher