In Zeiten der Flut
mußte ich losschicken. Sie waren gerade verfügbar.«
»Okay. Kurze Zeit später haben Sie mich beim Fest in Rosendal kontaktiert. Sie hatten sich als Tod verkleidet, und Sie wollten wissen, was ich über Gregorian herausgefunden hatte. Warum haben Sie das getan?«
Korda hob ein virtuelles Glas an die Lippen. Er trank in großen Schlucken, ohne sich betrinken zu können. »Gregorian hatte mir kurz vorher ein Paket geschickt. Darin waren Zähne, mehr nicht. Ich traute mich nicht, sie analysieren zu lassen, aber ein Irrtum erschien mir ausgeschlossen. Ich hatte schon Hunderte von Drul-Zähnen im Museum gesehen. Bei diesen hier waren die Wurzeln allerdings blutig. Sie mußten erst kürzlich gezogen worden sein.«
»Das paßt zu ihm«, bemerkte der Bürokrat trocken. »Und dann?«
»Nichts. Am nächsten Tag erfuhr ich von seiner Halbschwester, daß er sich hier mit mir treffen und mir den gewünschten Beweis übergeben wolle. Das ist alles. Möchten Sie das Paket nun öffnen?«
»Noch nicht«, sagte der Bürokrat. »Lassen Sie uns noch mal ein Stück zurückgehen. Warum haben Sie Gregorian überhaupt erschaffen? Es hatte was mit den Abstimmungen zu tun, nicht wahr?«
»Nein! Damit hatte es wirklich nichts zu tun. Ich ... ich wollte, daß er im Tideland aufwuchs, verstehen Sie. Ich plante mittlerweile auf lange Sicht. Mir war klar, daß die Drule deshalb so schwer aufzuspüren waren, weil sie nicht entdeckt werden wollten. Sie geben sich als Menschen aus, leben in sozialen Nischen, in Wanderarbeitercamps und in den Dachstuben heruntergekommener Netzläden. Sie sind schließlich intelligent und schlau, und sie sind nur wenige.
Um sie zu finden, brauchte ich jemanden, der sich im Tideland auskannte, der sich unter seinen Bewohnern bewegte, ohne Aufsehen zu erregen, der zwischen einem Scherz und einer unfreiwilligen Enthüllung unterscheiden konnte. Jemanden, der dort kulturell zu Hause war.«
»Das erklärt immer noch nicht, warum Sie dieser Jemand sein mußten.«
»Wem hätte ich sonst vertrauen können?« meinte Korda hilflos. »Wem hätte ich vertrauen sollen?«
Der Bürokrat schaute ihn lange Zeit an. Dann schob er das Paket ein Stück weit vor.
Korda hob den Deckel an. Als er sah, was darunter war, erstarrte er. »Machen Sie schon«, sagte der Bürokrat; auf einmal war er wütend. »Das wollten Sie doch haben, oder? Den letzten, unumstößlichen Beweis.«
Er griff in die Schachtel hinein und zog einen abgetrennten Kopf an den Haaren hervor. Zwei Surrogate, die in der Nähe standen, stellten ihre imaginären Drinks ab und glotzten. Weitere Surrogate wurden aufmerksam und schwenkten herum.
Der Bürokrat klatschte den Kopf auf die Theke.
Er war unmenschlich blaß, die Nase länger als bei jedem Menschen, der Mund lippenlos, die Augen zu grün. Als der Bürokrat mit der Hand über eine Wange fuhr, zuckten die Muskeln reflexhaft und stellten die Form dieser Kopfpartie anschließend wieder her. Korda glotzte den Kopf an, sein Mund auf dem Bildschirm klappte lautlos auf und zu.
Der Bürokrat wandte sich ab und ließ ihn stehen.
Das letzte Licht eines verwaschenen Sonnenuntergangs fiel durch die offene Tür, und hinter ihm sangen die Surrogate Das sind die letzten Tage, die letzten Tage, bevor alles zu Ende geht, als an seinem Ellbogen ein Hotelpage auftauchte. »Verzeihen Sie, Sir«, murmelte er, »aber eine Dame möchte Sie sprechen. Sie ist persönlich anwesend, und sie meint, es sei von höchster Wichtigkeit.«
Esme, dachte er betrübt, warum läßt du es nicht endlich gut sein? Beinahe wäre er gegangen. »Na schön«, sagte er. »Zeig mir den Weg.«
Das Gerät eskortierte ihn über einen verborgenen Aufzug zu einer unmittelbar unter der mächtigen Kuppelwölbung gelegenen Suite und entfernte sich, als sie die offenstehende Tür erreicht hatten. Von den Wänden strahlte ein sanftes Licht aus, in dem die extravagante Weitläufigkeit des Raums mit seinen handgeschnitzten Möbeln und dem gewaltigen Bett mit dem Seidenlaken um so ehrfurchtgebietender erschien. Er trat ein. »Hallo?«
Eine Tür ging auf, und hindurch trat die Frau, mit der er von allen Frauen der Welt am wenigsten gerechnet hätte.
Es verschlug ihm die Sprache.
»Hast du eifrig geübt?« fragte Undine.
Der Bürokrat errötete. Er war so überwältigt, daß er kein Wort herausbrachte. Er streckte seinen Arm über eine gewaltige Entfernung aus und nahm ihre Hand. Er umklammerte sie, nicht wie ein Liebender, sondern wie ein Ertrinkender.
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