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In Zeiten der Flut

In Zeiten der Flut

Titel: In Zeiten der Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Swanwick
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noch aus, um die Stadt zu erreichen und rechtzeitig vor dem Einsetzen der Großen Flut zurückzukehren. Dann konnte er nach Hause reisen.
    Vor ihm schwebte ein weißes Pünktchen in der Luft. Ein zweites kam dazu und dann ein drittes, zu klein für Blüten, zu groß für Blütenstaub. Es war bitterkalt. Er schaute hoch. Wann waren die Blätter abgefallen? Die kahlen Bäumen standen als schwarze Gerippe vor dem grauen Himmel. Noch mehr weiße Pünktchen taumelten vorbei.
    Dann waren sie überall und füllten den leeren Raum zwischen ihm und der Stadt mit ihrem Gewimmel und definierten dadurch diesen Raum, verliehen ihm Ausdehnung und verdeutlichten die Strecke, die er noch zurückzulegen hatte.
    »Es schneit«, sagte er verwundert.

    Die Kälte war unangenehm, trotzdem sah der Bürokrat keine Veranlassung, umzukehren. Ein wenig Unbequemlichkeit machte ihm nichts aus. Er schritt zügiger aus, in der Hoffnung, von der Anstrengung werde es ihm ein wenig wärmer werden. Das Fernsehgerät klatschte rhythmisch gegen seinen Schenkel. Weiche, federleichte Flocken häuften sich aufeinander, hüllten die Bäume ein, das Land, den Weg. Hinter ihm verwischten sich seine flüchtigen Fußspuren und verschwanden.
    Er schaltete den Fernseher ein. Ein grauer Drache aus Gewitterwolken krümmte sich mehrfach in sich zusammen, kroch über den Bildschirm zum Kontinent hinunter. Sie schmelzen! schrie jemand aufgeregt. Wir haben einige wunderbare Orbitalaufnahmen von den Polkappen vorliegen ...
    Er schaltete zum nächsten Kanal um - begeben Sie sich unverzüglich in Sicherheit. Der Pfad schlängelte sich zwischen den Bäumen einher, eben und flach und eintönig. Der atemlose Bürokrat stapfte mühsam voran. Der Fernseher plapperte unverdrossen weiter, im munteren Ton von Menschen, die am Rande der Katastrophe standen. Es wurde von Rettungsaktionen in Sand Province berichtet, die an ein Wunder grenzten, und von gefährlichen Luftbrücken an der Küste. Er erfuhr, daß das Militär in Alarmbereitschaft versetzt worden sei und die Flugzeugstaffeln im Sechs-Stunden-Takt rotierten. Er wurde ermahnt, das Tideland vor dem Eintreffen der ersten Flutwelle zu verlassen. Bis dahin seien es noch zwölf bis achtzehn Stunden. Er habe keine Zeit mehr zum Schlafen. Er habe keine Zeit mehr zum Essen. Er müsse unverzüglich aufbrechen.
    Der Schneefall war mittlerweile so dicht, daß er die Bäume rechts und links kaum noch erkennen konnte. Seine Zehen und Fußsohlen schmerzten von der Kälte. Hypothermie! plärrte der Fernseher. Reiben Sie nicht die unterkühlte Haut. Tauen Sie sie behutsam mit warmem Wasser auf. Er vermochte den Ratschlägen nicht zu folgen; es kamen zu viele unbekannte Wörter darin vor.
    Die Ansager klangen hektisch. Ihre Gesichter waren gerötet, ihre Augen glänzten. So war das eben mit den Naturkatastrophen, sie gaben den Menschen das Gefühl, wichtig zu sein und Notwendiges zu tun. Er schaltete weiter und fand eine Frau, welche die Präzession der Pole erklärte. Anhand von Karten und Weltkugeln erläuterte sie, daß Miranda nun in den Großwinter einträte und weniger Sonneneinstrahlung denn je abbekäme. Die Erwärmung fand bereits vor zehn Jahren statt. Komplizierte natürliche Feedbackmechanismen sorgen dafür, daß ...
    Der Tragegriff des Fernsehgeräts brannte wie Eis. Er konnte ihn nicht länger festhalten. Mühsam öffnete er die Hand und ließ los. Der Fernseher fiel auf den Weg, und der Bürokrat steckte seine Hand unter die Achsel. Mit verschränkten Armen eilte er weiter. Eine Zeitlang verfolgten ihn noch die Stimmen. Sie wurden allmählich leiser, bis sie ganz verstummten.
    Nun war er vollkommen allein.

    Erst als er stolperte und hinfiel, wurde ihm die Gefahr bewußt, in der er schwebte.
    Als er hart auf dem Boden aufschlug, blieb er einen Moment lang reglos liegen und genoß beinahe den sengenden Schmerz, der einen Arm und eine Gesichtsseite nahezu lähmte. Er wunderte sich darüber, daß das Wetter ihm dies alles antun konnte. Endlich wurde ihm klar, daß er entweder umkehren oder sterben mußte.
    Benommen stand er auf. Er hatte sich beim Fallen leicht gedreht, so daß er mm nicht mehr wußte, welche Richtung die richtige war. Der Schneefall war mittlerweile sehr dicht geworden, er überpuderte seinen Anzug und verfing sich in seinen Wimpern. Er sah kaum noch etwas. Ein paar graue Linien beiderseits des Wegs, die offenbar Bäume waren, mehr nicht. Der Abdruck, den er bei seinem Sturz im Schnee zurückgelassen hatte,

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