INAGI - Kristalladern
leicht gefallen, die Griffe zu erlernen und obwohl sie kaum Zeit zum Üben hatte, machte sie rasch Fortschritte. Die Melodien flogen ihr förmlich zu. Sie brauchte sie nur ein- oder zweimal zu hören, dann waren sie in ihrem Gedächtnis verankert. Sie liebte es, den Tönen nach zu lauschen und sich von ihnen in eine Welt davontragen zu lassen, in der es weder Sklaverei noch Furcht gab und in der niemand naserümpfend auf sie herabblickte. Eine Welt, in der es nur sie selbst und die Musik gab.
* * *
Ishira stand in einer gewaltigen Höhle. Zumindest nahm sie an, dass es sich um eine Höhle handelte. Sie konnte weder Wände noch Decke erkennen, doch der Boden unter ihren Füßen war felsig und uneben und über ihr leuchteten weder Mond noch Sterne. Um sie herum verlor sich alles in Dunkelheit. Nur von dem immensen Amanori, der vor ihr aufragte, ging ein schwaches Leuchten aus. Er lag zusammengerollt auf dem Boden und schnarchte friedlich, die ledrigen Schwingen zusammenfaltet, den stachligen Schwanz um die Beine gelegt. Sie betrachtete seinen geschuppten Körper. Die mächtige knochenbleiche Brust hob und senkte sich bei jedem Atemzug.
Von irgendwoher erhob sich Wind und strich mit kalten Fingern über ihre nackten Arme. Im selben Moment hob der Amanori die Lider und fixierte sie mit seinen goldenen Augen. Sie konnte sich nicht rühren. Eine Ewigkeit stand sie nur da und starrte den Drachen an, der ihren Blick ebenso unbeweglich erwiderte. Irgendwann richtete er sich auf und griff mit einer seiner Klauen in eine riesige Urne, die ihr zuvor gar nicht aufgefallen war. Er zog eine Holztafel heraus und begann zu lachen. Das Lachen dröhnte in ihren Ohren wie ein Gong. Es hallte von den Wänden der Höhle wider und wurde immer lauter, bis es direkt in ihrem Kopf zu sein schien. Die Holztafeln wirbelten hoch und tanzten um sie herum. Abwehrend riss Ishira die Arme hoch.
Der Amanori schrumpfte und nahm die Gestalt ihres Bruders an. Kenjin streckte die Hand nach ihr aus, als plötzlich goldene Feuerzungen über seinen Körper leckten. Er schrie auf und taumelte. Als sie ihn auffangen wollte, traf sie unvermittelt auf Widerstand. Um Kenjin herum hatte sich eine Wand aus Kristall gebildet. Mit aller Kraft schlug Ishira auf die durchsichtige Barriere ein, bis der Kristall in Tausende kleiner Splitter zerbarst, die ihr die Haut aufritzten. Der junge Mann, der ihr leblos in die Arme sank, war jedoch nicht ihr Bruder, sondern Kanhiro.
Mit einem Ruck fuhr Ishira hoch. Ihr Herz hämmerte wild und ihr Atem kam stoßweise, als wäre sie zu schnell gelaufen. Reglos saß sie da, bis sich die Bilder des Traums verflüchtigten. Draußen war es noch dunkel. Sie warf einen Blick zum Herd. Sie konnte nur kurz gedöst haben, denn das Feuer war nicht viel weiter heruntergebrannt, als sie es in Erinnerung hatte.
Ihr Bruder rührte sich in ihrem Schoß. »Nira?« murmelte er verschlafen. »Ist schon Morgen?«
»Nein, noch nicht.« Sie zwang sich dazu, ruhiger zu atmen. Erleichtert sah sie, dass sein Gesicht wieder Farbe bekommen und sich die Linien der Anspannung geglättet hatten. »Geht es dir besser?«
Kenjin winkelte versuchsweise einen Arm an. Ishira sah, wie er vor Anstrengung die Zähne zusammenbiss. »Jedenfalls gehorchen mir meine Muskeln langsam wieder.« Er krauste die Nase. »Aber ich fühle mich, als hätte ich hundert Körbe Kristalle geschleppt.«
Lächelnd strich sie ihm über die Wange. »Das gibt sich auch noch.«
Sein Blick verlor sich im Halbdunkel des Zimmers. »Bald beginnt die Lotterie«, flüsterte er unvermittelt.
Augenblicklich kehrte ihre Anspannung zurück. Bruchstücke ihres Traums durchzuckten ihren Geist. Nur noch wenige Stunden, bis der Anreshir – der Oberaufseher, der für den reibungslosen Betrieb in der Mine verantwortlich war – den Hauer bestimmen würde, der die Kristallader trennen musste. Die ganzen letzten Tage hatte Ishira jeden Gedanken daran verdrängt und heute Abend war sie so damit beschäftigt gewesen, sich um ihren Bruder zu kümmern, dass für etwas anderes kein Raum geblieben war – bis die Lotterie ihr in ihre Träume gefolgt war. Wie eine kalte Hand legte sich die vertraute Furcht auf ihr Herz.
Die Kristallader zu trennen, war die gefährlichste Aufgabe des Kristallabbaus, denn was die Bergleute noch mehr fürchteten als den Kristallhusten war der Zorn der Berggeister. Um die Menschen dafür zu bestrafen, dass diese ihre Ruhe störten, ließen sie die Energie gelegentlich
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