INAGI - Kristalladern
sprunghaft ansteigen. Shigen , die ‚Leuchtende Welle‘, tötete jeden, der in diesem Augenblick Kontakt zur Ader hatte.
Der todbringenden Lichtwelle ging keine Warnung voraus und es gab auch keinen Schutz. Zwar hielten sich hartnäckig Gerüchte, es würde die Energie abwehren, wenn man Hände und Werkzeuge mit Stoff umwickelte, doch auch Hauer, die sich auf diese Weise präpariert hatten, waren Shigen zum Opfer gefallen. Selbst Schutzamulette halfen nicht. Die meisten Bergleute setzten auf Gebete und Opfergaben, um die Geister zu besänftigen, doch nicht immer wurden die Geschenke akzeptiert. Die Angst, durch die rachsüchtigen Geister einen geliebten Ehemann, Vater, Bruder oder Sohn zu verlieren, hing wie ein dunkler Schatten über den Bergleuten. Da kein Hauer bereit war, sein Leben freiwillig zu riskieren, hatten die Gohari irgendwann das Losverfahren eingeführt, das drei Mal im Jahr für jede Mine getrennt stattfand.
Ein leichtes Zittern lief durch Kenjins Glieder. Ishira war nicht sicher, ob es ein neuerliches Zucken seiner Muskeln war oder Angst. »Es wird nicht Hiro oder seinen Vater treffen, nicht wahr?« Seine Stimme klang dünn wie die eines Kindes.
»Bestimmt nicht«, sagte sie und versuchte, so viel Überzeugung in ihre Worte zu legen, wie sie konnte. Doch unwillkürlich musste sie wieder an ihren Vater denken. Vor beinahe genau drei Jahren war das Los, die Kristallader zu trennen, auf ihn gefallen. Noch am selben Tag war er ein Opfer Shigens geworden.
Ishira hätte gern geglaubt, dass Hagares Tod der letzte Schicksalsschlag in ihrem Leben gewesen war, doch die Götter waren launisch und ihre Gerechtigkeit nicht an irdischen Maßstäben zu messen. Der Tod war allgegenwärtig und lauerte ebenso außerhalb der Minen wie innerhalb. Shigen war nur eines seiner vielen Gesichter. Genau genommen lag die Wahrscheinlichkeit, am Kristallhusten zu erkranken oder von einem Amanori ins Jenseits befördert zu werden, wesentlich höher. Doch egal, wie oft Ishira sich das sagte: besser fühlte sie sich deshalb nicht – schon gar nicht, seit Kanhiro seinen sechzehnten Geburtstag gefeiert hatte. Und ihr erst recht grauste ihr vor dem Tag, an dem der Lostrommel eine Holztafel mit Kenjins Namen hinzugefügt werden würde.
»Ich hasse die Lotterie!« stieß ihr Bruder so plötzlich hervor, dass sie zusammenschrak. Er schluchzte auf. »Und ich hasse die Minen! Ich will nicht immerzu in Angst leben, Nira!«
Sie zog ihn an sich. »Ich weiß«, flüsterte sie. »Ich weiß.« Doch genauso gut wusste sie, dass niemand von ihnen etwas daran ändern konnte.
Kapitel III – Die Lotterie
ISHIRA erwachte davon, dass ihr Bruder sich seufzend umdrehte und dichter an sie schmiegte. Sie zog die Decke höher über seine schmalen Schultern. Ihr rechter Arm, der unter seinem Kopf lag, fühlte sich taub an. Vorsichtig wand sie sich unter Kenjin hervor. Durch das verschlissene, aus Asagifasern gepresste Papier vor dem Fenster drang das fahle Licht der Morgendämmerung. Sie hatte am vergangenen Abend vergessen, die Läden zu schließen.
Ishira stand auf und schüttelte ihren Arm, bis das Gefühl darin zurückkehrte. Dann tappte sie die Treppe hoch in ihre Schlafkammer und goss etwas Wasser in ihre Waschschüssel. Sie streifte ihr Mihiri , das sich von den Kandi der Männer nur dadurch unterschied, dass es bis kurz über die Knie reichte, und ihr langärmeliges Hemd über den Kopf und wusch sich rasch. Nachdem sie sich wieder angezogen hatte, löste sie das Band, das ihre Haare zusammenhielt, und fuhr ein paar Mal mit dem Kamm durch die dicken Strähnen, bevor sie sie erneut zusammenfasste.
Sie hatte gerade den Asagi aufgesetzt, als aus dem Fort der Gong erklang, der den Bergleuten anzeigte, dass es Zeit war aufzustehen. Kenjin gähnte und öffnete die Augen. Sie lächelte. »Hungrig?«
Er nickte. Während Ishira darauf wartete, dass die Asagikörner aufquollen, nahm sie den farblosen Sirup aus dem Regal, den die Bewohner Soshimes aus den duftenden weißen Blüten der Rumesträucher gewannen, die am Hang hinter dem Dorf in großer Anzahl wuchsen. Als der Asagi schließlich die richtige Konsistenz hatte, füllte sie den Brei in zwei Schalen und mischte einige Tropfen des süßen Sirups unter, dessen Geschmack sie an einen warmen Sommertag erinnerte.
Sie trug die Schalen zu Kenjins Lager und kniete sich neben ihn. Prüfend sah sie ihn an, während sie ihm dabei half, sich aufzusetzen. »Denkst du, du kannst allein essen?«
Ihr
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