INAGI - Kristalladern
brachte die Felswände ringsum zum Erzittern. Unmittelbar darauf folgte ein zweiter. Ein Schwall heißer Luft blies unter dem Schutzgestell hindurch und wirbelte den Steinstaub um Kanhiro herum auf. Das Licht war gedämpft und fiel in Streifen gegen die Wände wie die fahle Sonne an einem nebligen Morgen. Als sich der Staub etwas gelegt hatte, verließ Kanhiro den Unterstand, um das Ergebnis der Sprengung zu begutachten.
Ein heller Schein stach ihm in die Augen. Die Kristallader lag frei. Genau wie vor drei Jahren, als er Hagares Träger gewesen war, wurde er wider Willen davon angezogen. Obwohl das Licht deutlich trüber war, als er es in Erinnerung hatte, strahlte die intakte Ader intensiver als das Abbaugebiet. Einmal von seiner Quelle getrennt, verlor der Kristall nach und nach seine Kraft. Ein einzelner Brocken gab so gut wie überhaupt keine Wärme mehr ab, während sein Licht erstaunlicherweise viele Monde hielt, wenn es mit der Zeit auch schwächer wurde. Nur aus diesem Grund lohnte sich für die Gohari überhaupt der Abbau. Hätte sich das Leuchten ebenso schnell verflüchtigt wie die Wärme, wäre der Kristall bereits wertlos gewesen, bevor er das Bergwerk verlassen hätte. Aber vielleicht würde er das ja bald sein, wenn die Energie noch weiter nachließ.
Nur mit Mühe konnte Kanhiro sich zurückhalten, über die glatte Oberfläche der Ader zu streichen. Aus der Nähe übte der Kristall eine geradezu magische Anziehungskraft aus, der nur schwer zu widerstehen war. Vielleicht, weil alles an ihm den Menschen Rätsel aufgab: die Herkunft des Leuchtens ebenso wie seine tödliche Schönheit. Und jetzt sein Verfall.
Hinter ihm knirschten Schritte im Schutt. Ishira trat neben ihn und betrachtete die Ader mit demselben ehrfürchtigen Staunen wie er zuvor. Für sie war es das erste Mal, dass sie ihr so nahe war, und auch sie schien drauf und dran, den Kristall zu berühren, zog die Hand aber im letzten Moment zurück, als sie sich der Gefahr bewusst wurde. Ihre Blicke begegneten sich. Ishiras weit geöffnete Augen, in denen sich das Licht des Kristalls brach, erschienen ihm riesengroß. »Sei vorsichtig, Hiro!« bat sie ihn.
»Bin ich das nicht immer?« erwiderte er scheinbar leichthin. Er hoffte, dass sie ihm die aufwallende Furcht nicht anmerkte, als er die Leiter holte und sie gegen die Ader lehnte. Die Sprengung hatte sich auch ein gutes Stück in die Decke gefressen und er würde jetzt ein Loch mehr schlagen müssen.
Er legte die Hände zusammen und bat die Geister des Berges um Vergebung und seine Ahnen, ihn zu beschützen. Dennoch wurde seine Brust eng, als er die Hand auf die Leiter legte. Seine Beine wollten ihn kaum die Sprossen erklimmen lassen. Er atmete einmal tief durch, bevor er seine zitternden Hände dazu zwang, den Meißel auf den Kristall zu setzen. Er hatte darauf verzichtet, seine Werkzeuge mit Stoff zu umwickeln, denn er wusste nur zu gut, dass es nichts brachte. Auch Ishiras Vater hatte es nichts genützt.
Sofort spürte Kanhiro das schwache Prickeln der Energie. Eine Welle kalter Furcht schwappte über ihn hinweg und überzog seinen Körper mit einem dünnen Schweißfilm. Die erste Sprengladung zu legen, war ungefährlich gewesen, da sich zwischen ihm und der Kristallader noch der Fels befunden hatte. Doch jetzt war er der Energie schutzlos ausgeliefert. Der Tod konnte jederzeit über ihn kommen.
Kanhiro wusste genau, wie es sein würde. Ihm stand noch deutlich vor Augen, wie die Ader ohne Vorwarnung gleißend hell aufgeleuchtet hatte, als Ishiras Vater gerade das Loch für eine neue Sprengladung in den Fels trieb. Plötzlich war Hagares ganzer Körper von weißgoldenen Lichtzungen umhüllt gewesen. Wie von einer gewaltigen Faust gepackt, hatte er sich einmal kurz aufgebäumt und war dann leblos in sich zusammengesackt. Ein rascher Tod, aber das tröstete Kanhiro wenig. Er wollte noch nicht sterben. Jedenfalls nicht so sinnlos. Zwar hatte er sein Leben schon einmal riskiert, als er sich gegen Henroth gestellt hatte, aber das war etwas anderes gewesen. Zum einen war er so aufgebracht gewesen, dass er über die möglichen Folgen seines Handelns gar nicht nachgedacht hatte. Zum anderen hatte er es nicht gezwungenermaßen getan, sondern aus eigenem Antrieb. Wenn er an den Folgen der Auspeitschung gestorben wäre, hätte er sein Leben wenigstens für seine Überzeugungen gegeben.
Seine Lippen verzogen sich zu einem grimmigen Lächeln. Er würde nicht einfach so sterben. Ishira zählte auf
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