INAGI - Kristalladern
ihn. Und selbst die Götter konnten nicht so herzlos sein, ihr noch mehr Kummer zu bereiten. Entschlossen ließ er den Hammer auf den Meißel niedersausen. Je schneller er seine Arbeit erledigte, desto eher würde er der Gefahr entronnen sein.
* * *
Ishira konnte kaum hinsehen, wie die Gestalt ihres Freundes sich vor der leuchtenden Ader abzeichnete, und dabei genau zu wissen, dass sein Körper durch Hammer und Meißel mit der todbringenden Energie in Kontakt stand. Am liebsten hätte sie ihn von der Leiter gezogen – weg vom Kristall.
Schweren Herzens ergriff sie ihren Korb und begann damit, die Gesteins- und Kristallbrocken einzusammeln, die die Sprengung bis weit in den Gang geschleudert hatte. Die Explosion hatte sich etwa einen Schritt tief in den Fels gegraben, davon eine Handspanne in die Kristallader. Da die Ader mehr als doppelt so hoch war wie die Stollendecke und sie auch noch weiter nach oben sprengen mussten, schätzte Ishira, dass sie zwei bis drei Tage beschäftigt sein würden – weitaus weniger als früher. Als Kanhiros Vater ein Kind war, hatte es das Sprengpulver noch nicht gegeben und die Kristallader hatte von Hand durchtrennt werden müssen. Das hatte länger als ein Zwölft gedauert und wesentlich mehr Leben gefordert als heute. Dennoch war die Gefahr ungebrochen.
Hell und rhythmisch hallten die Hammerschläge ihres Freundes durch den Stollen und vermischten sich mit dem Klirren des Kristalls. Rinnsale aus Schweiß liefen über seine Haut. Immer wieder hielt er inne, um sich über die Stirn zu wischen oder eine feuchte Haarsträhne, die sich aus seinem kurzen Zopf gelöst hatte, hinters Ohr zu streichen. Einmal wandte er kurz den Kopf und schenkte ihr ein kleines Lächeln. Doch anstatt sie zu beruhigen, verstärkte es ihre Nervosität eher noch. Jeder Muskel ihres Körpers war gespannt wie die Sehne eines Drachengeschützes. Sie sah wieder ihren Vater vor sich, wie er sich vor drei Jahren am Mineneingang von ihr verabschiedet hatte. Hagare hatte beinahe genauso gelächelt wie Kanhiro eben. Mach dir keine Sorgen, hatte dieses Lächeln bedeuten sollen. Mir wird schon nichts passieren . Es war das letzte Mal gewesen, dass sie ihn lebend gesehen hatte.
Ihr Freund war dabei gewesen, als er starb. Ishira hatte sich oft gefragt, wie es für ihn gewesen sein musste mit an zu sehen, wie ihr Vater von Shigen getroffen wurde. Kanhiro hatte nie viel darüber gesprochen und sie hatte ihn auch nicht bedrängt, weil sie gemerkt hatte, wie schwer es ihm fiel. Er hatte nur gesagt, dass Hagare schnell gestorben war. Dass er einfach zusammengebrochen war – vielleicht wie Kenjin gestern, nur ohne jemals wieder aufzuwachen.
Ishira schlang die Arme um ihren Körper, weil sie das Gefühl hatte, sie würde sonst auseinanderbrechen. Trotz der schweißtreibenden Wärme im Stollen war ihr auf einmal kalt. Eine Träne lief ihr über die Wange. Sie machte sich nicht die Mühe sie abzuwischen, da sie ohnehin sofort trocknete.
Diesmal fiel es ihr noch schwerer, den vollen Korb zum Ausleeren zu bringen und Kanhiro allein zu lassen. Sie kam einfach nicht gegen das Gefühl an, dass die Berggeister nur darauf warteten, dass sie ihrem Freund den Rücken zukehrte. Aber viel länger konnte sie ihren Gang zu den Loren nicht hinauszögern. Zwar hatte Bilar sie für den Moment sich selbst überlassen, aber er konnte jeden Augenblick zurückkehren.
Es wird schon alles gut gehen , kreisten Kanhiros Worte in Ishiras Kopf, als sie sich endlich dazu durchrang zu gehen. Bestimmt lief die nächste Energiewelle erst wieder durch den Kristall, wenn die Ader durchtrennt war. Oder in der Nacht. Oder wenn ihr Freund eine Pause einlegte. Ihm würde nichts passieren.
Es wird schon alles gut gehen . Während Ishira mit ihrer schweren Last durch den Stollen eilte, wiederholte sie die Worte unablässig in ihrem Geist, als wären sie ein Gebet. In ihrer Hast übersah sie, dass die Decke vor ihr sich ein wenig nach unten wölbte, und stieß sich heftig den Kopf. Tränen schossen ihr in die Augen. Sie biss die Zähne zusammen. Als sie sich die schmerzende Stelle rieb, sah sie ein, dass sie wohl oder übel etwas mehr Vernunft walten lassen musste. Sie tat weder sich noch Kanhiro einen Gefallen, wenn sie sich verletzte.
Als sie zurückkehrte, waren die Hammerschläge abgebrochen. In der Stille fiel Ishira erneut das seltsame Summen auf. War es die ganze Zeit über da gewesen? Es kam ihr jetzt lauter vor und nicht so gleichförmig, wie sie
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