INAGI - Kristalladern
Gehör zerreißen. Die Felsen um sie herum erzitterten, als würde die Welt aus den Fugen geraten. Von allen Seiten polterten Steine herab. Dicht neben Kanhiro prasselte ein Kristallhagel gegen die Stollenwand. Er zuckte zusammen, als sich ein scharfer Schmerz in seine rechte Schulter bohrte, und stolperte hinter seiner Freundin in den sicheren Quergang. Keuchend ließ er sich gegen die Felswand sinken. Der feine Staub, der wie Nebel in der Luft hing, stach in seine Lungen und verklebte ihm Augen und Nase.
Ishira drehte sich zu ihm um und musterte ihn besorgt. »Hat dich ein Splitter getroffen?«
Nach der ohrenbetäubenden Explosion hatte Kanhiro Mühe, sie zu verstehen. Auf seinen Ohren lag ein unangenehmer Druck und alle Geräusche waren gedämpft, als kämen sie durch eine dicke Wand. »Ist nur ein Kratzer«, wiegelte er ab, obwohl er sich dessen nicht so sicher war. Er unterdrückte einen erneuten Hustenreiz. Es hatte nicht viel gefehlt, dass sie da hinten ihr Grab gefunden hätten.
Was war überhaupt passiert? Wie, bei allen Göttern, hatten die Sprengladungen hochgehen können? Er hatte die Zündschnüre doch gar nicht…
Eine Erinnerung drängte sich in seinen Geist und schnitt den Gedanken ab: Genauso hatte der Kristall geleuchtet, als Hagare gestorben war. Erschüttert fuhr Kanhiro sich mit der Hand übers Gesicht. Die Kristallenergie musste die Sprengrollen zur Explosion gebracht haben.
Schlagartig wurde ihm noch etwas anderes klar: Seine Freundin hatte es gewusst. Aber wie hatte sie auch nur ahnen können, was geschehen würde?
Bilar stolperte an ihnen vorbei und blickte fassungslos auf das Trümmerfeld, in das sich der Bereich vor der Kristallader verwandelt hatte. An seiner Schläfe schwoll eine Ader. »Bei den zwölf Höllen, was habt ihr beide angestellt?« brüllte er los. »Wolltet ihr hier drinnen alles zum Einsturz bringen?«
Benommen besah sich Kanhiro das Ausmaß der Verwüstung. In Decke und Wänden klafften große Löcher und überall lagen Gesteinsbrocken und Kristalle verstreut. Die Sprengladungen allein konnten dafür unmöglich verantwortlich sein. Stockend versuchte er dem Anreshir begreiflich zu machen, dass ihn und Ishira keine Schuld traf, sondern dass Shigen der Auslöser der Explosionen gewesen war und deren Wirkung offenbar auch um ein Vielfaches verstärkt hatte.
»Unsinn!« fuhr Bilar auf. »Dann hätte das auch früher schon passieren müssen!«
»Vielleicht hatten wir bislang einfach Glück«, hielt Kanhiro dagegen, »und Shigen ist einfach noch nie genau in dem Moment durch die Adern gelaufen, als die Sprengrollen im Kristall steckten.«
»Kanhiro hat Recht, Deiro«, kam Ishira ihm zu Hilfe, bevor dem Anreshir eine Antwort einfiel. »Er konnte die Zündschnüre auch gar nicht in Brand setzen, weil ich ihm das Streichholz aus der Hand geschlagen habe.«
Bilars Brauen zogen sich argwöhnisch zusammen. »Und aus welchem Grund hast du die Arbeit des Hauers behindert?«
Sie warf Kanhiro einen raschen Blick zu, bevor sie ihr Augenmerk wieder auf den Anreshir richtete. »Ich habe gespürt, dass wir in Gefahr waren«, sagte sie leise.
Der Oberaufseher sah sie durchdringend an. »Was genau meinst du damit?«
Ishira zögerte, als suchte sie nach Worten. Bilar holte ungeduldig Luft. »Da war dieses Summen«, stieß sie hervor, ehe er sie erneut anfahren konnte.
»Das Summen, von dem du mir heute Morgen erzählt hast?« unterbrach Kanhiro sie verblüfft.
Der Blick des Aufsehers schoss finster zwischen ihnen hin und her. »Was für ein Summen?«
»Das Wispern der Energie«, erwiderte Ishira. »Nur wusste ich das da noch nicht.« Wieder stockte sie. »Es ist immer noch da«, fügte sie leise hinzu, mehr zu sich selbst als zu Bilar.
Kanhiro starrte sie an. Sie konnte die Kristallenergie hören ? Er spitzte seine Ohren, aber alles, was er wahrnahm, war Bilars schnaufendes Atmen und das Rieseln von Steinstaub.
Das Gesicht des Anreshir verfärbte sich. »Willst du mich zum Besten halten, Mädchen?« fragte er mühsam beherrscht.
Ishira hob beschwichtigend die Hände. »Nein! Nein, es ist wahr«, beteuerte sie. »Zuerst habe ich selbst geglaubt, ich hätte mir das alles nur eingebildet. Aber das Raunen verfolgte mich den ganzen Tag. Kurz vor Shigen steigerte es sich dann plötzlich zu etwas wie vielstimmigem Gesang. Da wurde mir klar, dass es die ansteigende Kristallenergie war. Bitte, fragt mich nicht, warum. Ich kann es nicht erklären. Ich… wusste es einfach«, schloss sie
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