INAGI - Kristalladern
hilflos.
Eine Weile sagte niemand etwas. Kanhiro konnte kaum glauben, was er eben gehört hatte. Seine Freundin konnte nicht nur die Energie wahrnehmen, ohne den Kristall zu berühren, sie hatte Shigen vorhergesehen! Als ihm aufging, was das für die Zukunft bedeuten könnte, begann sein Herz vor Aufregung schneller zu schlagen. Falls sich das heute nicht als einmaliger Glücksfall erwies, sondern Ishira wirklich mit einer besonderen Gabe gesegnet war, musste in Soshime vielleicht kein Hauer mehr durch die Energie sterben!
Bilar kratzte sich an der Wange. Sein Gesicht hatte wieder eine normale Farbe angenommen. »Ich habe noch nie davon gehört, dass jemand die Energie auf diese Weise wahrgenommen hätte. Geschweige denn, dass jemand in der Lage gewesen wäre, einen Ausbruch vorherzusagen«, äußerte er seine Zweifel. »Aber ich kann mir auch nicht vorstellen, dass du dir so eine Geschichte ausdenken würdest.« Er räusperte sich. »Ich werde mit dem Hemak über die Angelegenheit sprechen. Ihr beide werdet vorläufig niemandem erzählen, was heute hier geschehen ist, habt ihr mich verstanden? Ich will kein unnötiges Aufsehen. Aber du wirst den Hauer hier morgen wieder zum Streb begleiten, Mädchen. Und jetzt zurück an die Arbeit!«
Kanhiro fragte sich, ob der Anreshir dasselbe dachte wie er. Würde er den Hemak bitten, Ishira zum Schutz der Hauer abzustellen? Als er sich aufrichtete, fuhr erneut stechender Schmerz durch sein rechtes Schulterblatt. Er biss sich auf die Lippe und tastete mit der linken Hand nach der Verletzung.
»Lass mich sehen!« forderte Ishira und trat hinter ihn. Sie stieß einen erstickten Laut aus. »Du blutest ja!« Mit kühlen Fingern fuhr sie behutsam über seine Haut. »Von wegen Kratzer! Der Kristallsplitter steckt tief im Fleisch.« Sie wandte sich an den Aufseher. »Die Wunde sieht ziemlich ernst aus, Deiro. Bitte erlaubt mir, Kanhiro ins Haus des Heilens zu bringen, bevor sie sich entzündet.«
Der Anreshir besah sich den Schaden ebenfalls. »Also gut«, stimmte er hörbar widerwillig zu. »Aber sag den Heilern, ich erwarte, dass er morgen wieder einsatzfähig ist.«
* * *
Kenjin hockte auf seiner Schlafmatte, als Ishira mit Kanhiro nach Hause kam. Trotz guten Zuredens hatte ihr Freund sich strikt geweigert, ins Haus des Heilens zu gehen.
Sie konnte durchaus verstehen, dass er an diesen Ort keine guten Erinnerungen hatte. Ihrer Meinung nach hatten die goharischen Heiler ihm im vorletzten Jahr nur die allernötigste Fürsorge angedeihen lassen. Dass er die Auspeitschung überlebt hatte, hatte er vermutlich weniger ihnen zu verdanken als seinem eigenen starken Willen. Dennoch wurde Ishira mulmig bei dem Gedanken, seine Verletzung allein zu behandeln.
Ihr Bruder hatte das Feuer in Gang gehalten und sich Tee gekocht. Die Reste des Räucherfischs und der Suugiknollen, die Ishira ihm übriggelassen hatte, waren verschwunden. Eindeutig ging es ihm besser als am Morgen. »Ihr seid aber früh dran!« rief er erstaunt, als er sie sah.
»Wie fühlst du dich?« fragte Ishira, ohne auf die Bemerkung einzugehen.
»Mir geht’s gut«, versicherte er. »Ich bin nur noch ein bisschen schlapp. Aber nun erzählt schon: warum seid ihr als einzige schon zurück?«
»Das ist eine längere Geschichte.« Vorsichtig ließ Kanhiro sich neben ihm nieder.
Als Kenjin seine blutige Schulter sah, weiteten sich seine Augen. »Was ist passiert?«
»Ein kleiner Unfall beim Sprengen.«
Kenjin wich das Blut aus dem Gesicht. »Beim Sprengen?« wiederholte er heiser. »Du willst damit doch nicht etwa sagen, dass… dass du…« Er brachte den Satz nicht zu Ende.
Kanhiro seufzte. »Da du es spätestens morgen ohnehin erfährst: ja, das Los, die Kristallader zu trennen, ist auf mich gefallen.«
Kenjins Unterlippe begann zu zittern. »Hiro«, flüsterte er.
Ihr Freund verstrubbelte ihm das Haar. »Kein Grund, so ein Gesicht zu ziehen! Der erste Tag ist ja schon um. Und die anderen werden auch umgehen.«
Kanhiros Versuch, die Stimmung aufzuhellen, schlug fehl. Kenjins bekümmertes Gesicht drängte Ishira, ihm die Wahrheit zu sagen, aber sie wagte nicht, gegen Bilars Anordnung zu verstoßen. Ihr Bruder war ein impulsiver Junge, der oft genug handelte, bevor er nachdachte. Ein falsches Wort von ihm und sie konnten alle bestraft werden. Davon abgesehen, wollte sie nicht darüber reden. Zumindest nicht jetzt. Sie brauchte Zeit, um die Geschehnisse zu verarbeiten. Noch konnte sie selbst kaum fassen, dass das
Weitere Kostenlose Bücher