INAGI - Kristalladern
zunächst gedacht hatte. Mehr wie ein auf- und abschwellendes Raunen. Als ob ihr jemand etwas zu wispern wollte. Immer deutlicher hatte sie das Gefühl, das eigenartige Geräusch käme vom Kristall. Sie runzelte zweifelnd die Stirn. Aus Berichten der Hauer, die eine Trennung überlebt hatten, wusste sie, dass man die Energie als feines Prickeln spüren konnte, wenn man die Ader berührte. Doch ein Summen oder ähnliches hatte bisher niemand erwähnt. Konnte die Kristallenergie überhaupt ein solches Raunen erzeugen?
Der Tag verging quälend langsam. Inzwischen mochte es später Nachmittag sein. Hier in der Mine war es schwer, die Zeit zu schätzen. Ishira hoffte, dass die Sprengung, die Kanhiro gerade vorbereitete, für heute die letzte sein würde. Müde rieb sie sich die Schläfen, während sie ihrem Freund dabei half, die Sprengrollen anzubringen. Das unerklärliche Wispern hatte sie den ganzen Nachmittag über begleitet. Eine Weile lang hatte sie sich eingeredet, dass sie infolge der nervlichen Anspannung einfach ihr Blut in den Ohren rauschen hörte, doch vor kurzem hatte sich das Raunen verändert. Eine körperlose Stimme schien nach ihr zu rufen und die Erwartung von etwas, von dem sie nicht wusste, was es war, brachte ihre Kopfhaut zum Prickeln.
Abwägend betrachtete Ishira die Kristallader. Es gab nur eine Möglichkeit herauszufinden, ob das Wispern vom Kristall kam. Vorsichtig streckte sie die Hand aus und legte sie auf die beinahe heiße Oberfläche, die genauso glatt war, wie sie aussah. Ein sanftes Vibrieren lief durch ihre Finger. Im selben Moment gewann das Raunen an Präsenz, als würde es auf die Berührung antworten. Hingerissen erkannte Ishira, dass es in Wahrheit eine Art wortloser Gesang war. Fremdartig und zugleich seltsam vertraut, obwohl er nichts ähnelte, was sie jemals gehört hatte. Die unirdische Schönheit dieser Musik raubte ihr den Atem. Das mussten die Geister der Berge sein.
Kanhiro packte ihre Hand und riss sie vom Kristall weg. »Nicht, Shira!« rief er erschrocken.
Der Gesang brach ab. Ishira hatte das Gefühl, als wäre ihr etwas Kostbares entrissen worden. Alles in ihr drängte danach, den Kristall erneut zu berühren, doch sie wusste, dass es Wahnsinn wäre. Und außerdem würde Kanhiro es nicht zulassen. Widerstrebend trat sie einen Schritt zurück. »Entschuldige«, murmelte sie »Es ist einfach so über mich gekommen.«
Ihr Freund ließ sie los. »Ich weiß, welche Anziehungskraft die Ader ausübt, aber bitte tu das nicht noch mal!« bat er sie eindringlich. »Das ist viel zu gefährlich.«
Sorgfältig brachte er die letzte Sprengrolle an. Nachdem er sich noch einmal vergewissert hatte, dass alle drei Rollen richtig saßen, rollte er vorsichtig die Schnüre ab. Als Ishira ihm die Zündholzer reichte, hörte sie den ätherischen Gesang auf einmal wieder ganz deutlich, obwohl sie den Kristall überhaupt nicht berührte. Die körperlose Stimme umhüllte sie und drang in sie ein, bis ihr Herz im selben Rhythmus schlug. Weitere, andersartige Stimmen fielen in den Gesang ein und steigerten ihn zu einer überwältigenden Klangfülle, die Ishiras Herz zum Überfließen brachte.
Doch unversehens mischte sich in ihre Berauschtheit die Gewissheit einer unmittelbar bevorstehenden, tödlichen Gefahr.
Kapitel V – In letzter Sekunde
KANHIRO hatte eben das Zündholz angerissen, als Ishira ohne ersichtlichen Grund vorsprang und ihn am Unterarm packte. Das brennende Stäbchen fiel ihm aus der Hand und erlosch flackernd. Erschrocken sah er seine Freundin an. »Was ist denn los?«
»Wir müssen hier weg!« schrie sie schrill. Ihre Augen waren das blanke Entsetzen. »Komm schon!« Mit beiden Händen zerrte sie an seinem Arm.
Gegen seinen Willen steckte ihn die Panik in ihrer Stimme an. Ishira würde so etwas nicht ohne Grund tun. Obwohl er keine Ahnung hatte, wovor sie davonliefen, gab er seinen Widerstand auf und folgte ihr. Bilar würde sie dafür zwar bestimmt zur Rede stellen, aber…
Hinter ihnen gleißte die Kristallader auf wie ein unterirdisches Wetterleuchten. An der Wand tanzten ihre grotesk verzerrten Schatten. Vor Schreck vergaß Kanhiro, woran er gerade gedacht hatte. Ishira zog ihn nach links. Das Gesicht des Anreshir, der hinter dem Unterstand hervor getreten war, als habe er nachschauen wollen, was passiert war, hatte sich in eine grell beleuchtete Grimasse verwandelt. Zeitgleich überrollte sie ein dreifacher Donnerhall, bei dem Kanhiro glaubte, er würde ihm das
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