INAGI - Kristalladern
angefangen hatten, im Bergwerk zu arbeiten, waren sie manchmal zu zweit, seltener auch mit Tasuke, ein Stück in die Berge hinaufgeklettert. Östlich der Siedlung gab es eine Stelle, von der man einen wunderbaren Blick über Soshime und das Tal hatte. Sie hatten es sich im Gras gemütlich gemacht, Kejirollen oder Aiyaki in sich hineingestopft und sich ausgesponnen, was jenseits dessen liegen mochte, das sie kannten. Wenn Kanhiro nicht verletzt gewesen wäre, hätte sie Lust gehabt, den Berg hinaufzusteigen und wie in alten Zeiten den Sonnenuntergang zu genießen. Dort oben konnte man sich einbilden, der Freiheit einen Schritt näher zu sein.
Ihr Freund blieb stehen und atmete tief durch. »Riechst du das auch? Der Frühling kommt.«
Ishira schnupperte. In der Tat schmeckte die Luft würzig nach frischem Grün und Wildkräutern. Als sie zu den Bergen hinübersah, entdeckte sie oberhalb der Baumgrenze die ersten Hanari – kleine weiße Sternblumen, die bald die gesamten Hänge überziehen würden. In der Nähe zwitscherten einige Vögel und der Wind strich sacht durch den Bambushain und die Zweige der Bantanbäume. Die rauschenden Blätter erinnerten Ishira an das Wispern der Kristallenergie. Sie hob ihr Gesicht in die Brise und breitete die Arme aus. »Ich glaube, ich war schon lange nicht mehr so glücklich.«
»Und ich habe mich selten so lebendig gefühlt«, erwiderte Kanhiro heiter, um dann ernster fortzufahren: »Ohne dich würde ich jetzt nicht hier stehen.«
Sie drehte sich zu ihm um und hob abwehrend die Hände. »Bitte keine Dankesbekundungen! Du hast umgekehrt schon so viel für mich und Kenjin getan, dass ich es gar nicht mehr zählen kann. Ich bin froh, dass ich ein einziges Mal auch etwas für dich tun konnte.«
Statt einer Antwort streckte er eine mit glitzerndem Kristallstaub bedeckte Hand nach ihrer Wange aus und strich mit dem Daumen sanft über ihr Kinn. Etwas an seiner Berührung war anders als sonst. Ishiras Puls beschleunigte sich. Sie standen so dicht beieinander, dass sie die goldfarbenen Sprenkel in seiner dunkelbraunen Iris erkennen konnte. Seiner nackten Brust haftete das vertraute Aroma aus Schweiß und Steinstaub an. Auf einmal hatte sie Schwierigkeiten zu atmen.
Einen Augenblick später trat ihr Freund einen Schritt zurück und brach den Bann. In einer eigenartig ungelenk wirkenden Geste fuhr er sich durchs Haar und räusperte sich. »Lass uns zum Wasser hinunter gehen. Ich könnte ein Bad vertragen. Und dann musst du mir unbedingt genauer erklären, wie das mit dir und der Kristallenergie funktioniert.«
* * *
Von nun an kehrte das Leben in seine gewohnten Bahnen zurück. Kanhiro arbeitete wieder mit seinem Vater und Kenjin zusammen. Allerdings schickte der Anreshir die Drei nicht wieder ins Abbaugebiet, sondern ließ sie den linken Parallelstollen vorantreiben. Ishira stand einmal mehr am Sortiertisch. Die Einzige, die sie nach ihren Erlebnissen in der Mine befragte, war Midori. Keine der anderen Frauen wollte sich die Blöße geben, neugierig zu erscheinen. Doch alle spitzten sie die Ohren, um sich ja kein Wort entgehen zu lassen. Während Ishira knapp eine geschminkte Version der Ereignisse zum Besten gab, fragte sie sich, wie die Sortiererinnen wohl reagieren würden, wenn sie die Wahrheit wüssten. Würde sie in ihrer Achtung steigen? Oder würde sich die Abneigung der Frauen eher noch verstärken?
Vier Tage später kannte sie die Antwort. Kurz vor dem Abend kam der Platzaufseher an ihren Tisch. Entgegen seiner sonstigen Gewohnheit machte er sich diesmal nicht die Mühe sich anzuschleichen. Dennoch fuhr Ishira erschrocken zusammen, als er ihr grob den Griff seiner Peitsche in den Rücken stieß. »Du da! Komm mit!«
Rasch überschlug sie im Kopf die letzten Tage. Was konnte sie falsch gemacht haben? Ihr fiel beim besten Willen nichts ein, aber das wollte nichts heißen. War dem Reshir eine Laus über die Leber gelaufen, konnte schon die lächerlichste Kleinigkeit eine Bestrafung nach sich ziehen. Angespannt begleitete sie ihn unter den gaffenden Blicken der anderen Sortiererinnen zu den Lagerhäusern. Im Aufenthaltsraum der Reshiri wurden sie von Bilar und einem kräftig gebauten Kiresh erwartet. Ishira entspannte sich etwas. Bestimmt hatte er sie wegen der Kristallenergie rufen lassen. Da sie den Anreshir in den letzten Tagen nicht gesehen hatte, ging sie davon aus, dass er dem Hemak einen Besuch abgestattet und ihm ihren Fall vorgetragen hatte. Ehrerbietig verneigte
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