INAGI - Kristalladern
verboten, auch nur den kleinsten Splitter aus dem Bergwerk mit nach Hause zu nehmen. Wer dabei erwischt wurde, musste mit harter Strafe rechnen. »Du weißt, wie die Gohari sind. Die bringen es fertig und behaupten, du hättest ihn gestohlen!«
»Keine Sorge«, beruhigte er sie. »Ich werde ihn in Stoff hüllen. Kein Mensch wird etwas merken.«
Jemand pochte stürmisch an die Haustür. Bevor Ishira antworten konnte, wurde die Tür aufgerissen und Seiichi und Tasuke polterten ins Haus – etwas würdevoller, aber nicht weniger erregt von Togawa gefolgt.
»Hoi«, rief Tasuke, noch bevor er richtig im Zimmer stand. »Ihr könnt einen vielleicht in Atem halten! Erst lässt Ken sich von einem Amanori außer Gefecht setzen und dann sprengst du dich beinahe in die Luft, Hiro!« Er musterte seinen Freund. »Alles in Ordnung?«
»Alles bestens. Shira hat mich wieder zusammengeflickt.«
Tasuke schüttelte erleichtert den Kopf. »Da hast du ja noch mal Glück gehabt.«
Ausnahmsweise lächelte Kanhiro nicht. »Du weißt gar nicht, wie Recht du hast.«
* * *
Obwohl es beinahe einen halben Vormittag gedauert hatte, die herabgestürzten Felsbrocken zu beseitigen, sprengte Kanhiro schon am frühen Nachmittag des übernächsten Tages das letzte Stück der Kristallader.
Das Raunen der Energie hatte sich in diesen beiden Tagen nicht verändert. Hatte Ishira sich zunächst noch Sorgen gemacht, es könnte alles nur eine unglaubliche Verkettung von Zufällen gewesen sein, hatten sich diese Zweifel bereits am Morgen des zweiten Tages verflüchtigt. Sobald sie das Abbaugebiet passiert hatten, wurde das Wispern deutlich vernehmbar. Zum Schluss hatte sie das Raunen kaum noch wahrgenommen, wenn sie sich nicht gerade bewusst darauf konzentrierte.
Dass die Energie innerhalb so kurzer Zeit ein zweites Mal anstieg, war äußerst unwahrscheinlich. Dennoch hatte Bilar Kanhiro überraschenderweise erlaubt, mit der Arbeit zu pausieren, solange Ishira zu den Loren unterwegs war. Sie hatte dem Anreshir diese Entscheidung hoch angerechnet. Und falls sie noch einen Beweis dafür gebraucht hätte, dass er ihrer Geschichte Glauben schenkte: hier war er.
Nachdem Kanhiro seine Aufgabe erfüllt hatte, entließ Bilar sie beide und gab ihnen den Rest des Tages frei, wie es Tradition war. Die Wunde ihres Freundes hatte auch heute wieder angefangen zu bluten und er sah mitgenommen aus, doch seine leuchtenden Augen spiegelten Ishiras eigene Freude wider. Die Gefahr war ausgestanden und in den nächsten drei Jahren würde sein Name nicht bei der Lotterie auftauchen. Im Moment gab es nichts mehr, worüber sie sich Sorgen machen mussten.
Die jüngeren Sortiererinnen begannen miteinander zu tuscheln, als sie an ihnen vorbeigingen. Ishira erriet unschwer, was der Anlass war. Keine der Frauen verstand, warum Kanhiro sich ausgerechnet mit ihr abgab und ihr so viel seiner kostbaren Zeit schenkte. Einige von ihnen waren wohl auch eifersüchtig, obwohl dazu nicht wirklich Grund bestand. Sie und Kanhiro waren kein Paar, auch wenn Ishira sich in ihren schwachen Momenten wünschte, ihr ganzes Leben mit ihm zu verbringen. Sie hatte Angst davor, irgendwann allein zu sein, aber es wäre selbstsüchtig gewesen, ihren Freund an sich zu binden. Er konnte sie nicht ewig beschützen und er hatte entschieden etwas Besseres verdient als ihretwegen sein Ansehen zu verlieren.
Die Kireshi am Tor waren mit den Regeln vertraut und hielten sie nicht auf. Es war ungewohnt, zu dieser Tageszeit auf der Straße unterwegs zu sein. Die Kronen der ausladenden Bantanbäume am Wegesrand badeten in den milden Strahlen der Sonne, die noch nicht ganz hinter dem Bergmassiv verschwunden war. Ihre zarten hellgrünen Blätter hoben sich leuchtend gegen den blaugrauen Himmel ab, bis sich eine Wolke vor die Sonne schob.
»Wollen wir einen Spaziergang am Fluss machen?« schlug Kanhiro vor.
Ishira zögerte. »Soll ich nicht lieber zuerst deine Schulter neu verbinden?«
»Das hat noch Zeit«, wehrte er ab. »Das Wetter ist so schön und wir sollten die geschenkte Zeit nutzen, meinst du nicht?«
»Also gut, überredet.«
In einträchtigem Schweigen schlenderten sie die Straße entlang. Kanhiro hatte sein Kandi über die Schulter geworfen und blinzelte in die Sonne, die gerade wieder hinter den Wolken hervor lugte. Ishira beobachtete ihn lächelnd. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie schon seit Jahren nicht mehr auf diese Weise mit ihm allein gewesen war. Früher, als Kinder, bevor sie
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