Incarceron
es auÃerhalb
gibt. Jetzt beschützt es mich. Timon ist letzte Woche gestorben,
und Pela ist seit dem Aufruhr verschollen. Obschon ich hier in
dieser vergessenen Halle versteckt bin, sucht das Gefängnis nach
mir. Es flüstert: »Ich spüre dich. Ich spüre dich, wie du auf meiner
Haut herumkriechst.«
LORD CALLISTONS TAGEBUCH
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D ie Königin erhob sich graziös.
In ihrem Gesicht, das weià wie Porzellan war, wirkten ihre seltsamen Augen klar und kalt. »Meine liebe, liebe Claudia.«
Claudia machte einen Knicks, dann wurden ihr Küsse auf beide Wangen gehaucht. Im festen Griff der Umarmung spürte sie die dünnen Knochen der Königin und ihren schmalen Körper in dem verstärkten Korsett und unter den riesigen Reifröcken.
Niemand kannte Königin Sias Alter. Immerhin war sie eine Zauberin. Vielleicht war sie älter als der Hüter, obwohl er neben ihr gesetzt und düster wirkte. Sein grau melierter Bart war peinlich genau gestutzt. Vergänglich oder nicht, die Königin wirkte doch überzeugend. Sie sah kaum älter als ihr Sohn aus.
Sie drehte sich um und führte Claudia unter den verdrieÃlichen Blicken Caspars in den Palast hinein. »Ihr seht heute ganz
bezaubernd aus, meine Liebe. Dieses Kleid ist wundervoll. Und erst Eure Haare! Verratet mir: Ist das Euer Naturton, oder habt Ihr sie färben lassen?«
Claudia atmete aus und hatte schon jetzt genug, aber glücklicherweise gab es keinerlei Veranlassung für eine Antwort. Die Königin sprach bereits über etwas vollkommen anderes. »⦠und ich hoffe, dass Ihr mich nicht für zu forsch haltet.«
»Nein«, sagte Claudia, die nicht zugehört hatte, in den kurzen Augenblick der Stille hinein.
Die Königin lächelte. »Ausgezeichnet. Hier entlang.«
Sie gingen auf eine hölzerne Tür mit Doppelflügeln zu, die von zwei Wachen für sie geöffnet wurden. Nachdem Claudia eingetreten war, schlossen sich die Türen wieder, und die winzige Kammer bewegte sich lautlos nach oben.
»Ja, ich weië, murmelte die Königin, die ganz dicht neben Claudia stand. »Was für eine Verletzung des Protokolls. Aber ich bin die Einzige, die diesen Aufzug benutzt, also wen geht es etwas an?«
Ihre kleinen, weiÃen Hände umklammerten Claudias Arm so fest, dass diese spüren konnte, wie sich die Fingernägel in ihre Haut gruben. Sie hatte ein beklemmendes Gefühl in der Brust, als ob man sie entführt hätte. Selbst ihr Vater und Caspar waren nun nicht mehr in ihrer Nähe.
Als sich die Türen wieder öffneten, lag vor Claudia ein Flur, der nur aus Gold und Spiegeln zu bestehen schien. Er musste ungefähr dreimal so groà sein wie das ganze Haus, in dem sie bisher gewohnt hatte. Die Königin nahm sie an der Hand und führte sie zwischen riesigen, gemalten Landkarten hindurch, die jedes Gebiet im Reich zeigten. In den Ecken waren sie mit Fantasiebildern von wogenden Wellen, Meerjungfrauen und Seemonstern verziert.
»Dies ist die Bibliothek. Ich weiÃ, dass Ihr Bücher liebt. Caspar
ist unglücklicherweise nicht so lernwillig. In Wahrheit weià ich gar nicht, ob er überhaupt lesen kann. Aber wir werden jetzt nicht hineingehen.«
Mit entschlossenem Griff wurde Claudia am Lesesaal vorbeigezerrt, doch sie wandte den Kopf und schaute zurück. Zwischen jeder Landkarte stand eine blauweiÃe Porzellanvase, in der sich ein Mann hätte verstecken können, und die Spiegel waren so angebracht, dass sie einander im Sonnenlicht reflektierten, sodass Claudia plötzlich keine Ahnung mehr hatte, wo der Flur aufhörte und ob er überhaupt ein Ende hatte. Auch die kleine, weiÃe Gestalt der Königin schien sich vor und hinter ihr und auch zu beiden Seiten zu wiederholen. Und mit einem Mal schien die entsetzliche Furcht, die Claudia in der Kutsche empfunden hatte, in diesem raschen, unnatürlich jugendlichen Gang und der scharfen, vertraulichen Stimme der Königin ihren Höhepunkt zu finden.
»Dies ist Euer Gemach. Euer Vater ist nebenan untergebracht.«
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Das Zimmer war riesig.
Da gab es einen Teppich, in dem Claudias FüÃe versanken, und ein Himmelbett mit schweren, safrangelben Seidenvorhängen, deren Anblick allein ihr schon das Gefühl vermittelte, darunter ersticken zu müssen.
Abrupt befreite sie ihre Hand aus dem Griff der Königin und trat einen Schritt zurück, denn sie
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