Incarceron
Stunde dem Zimmer vor
dem Tor näherte, da war er, so sagt man, voller Angst,
dass er niemanden vorfinden würde.
Er öffnete die Tür. Sieben Männer und Frauen
waren dort und warteten auf ihn. In einer feierlichen
Zeremonie betraten sie das Gefängnis.
Sie wurden nie wieder gesehen.
GESCHICHTEN VOM STAHLWOLF
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A n diesem Abend gab der Hüter ein Bankett für seinen Ehrengast.
Die lange Tafel war mit prächtigem Silbergeschirr eingedeckt, und auf den Kelchen und Platten waren ineinanderverschlungene Schwäne eingraviert. Claudia trug ein Kleid aus roter Seide
mit einem Mieder aus Spitze; sie saà Lord Evian gegenüber. Ihr Vater hatte am Kopf des Tisches Platz genommen, aà nur wenig und sprach leise, während sein ruhiger Blick über die Reihen seiner nervösen Gäste wanderte.
All ihre Nachbarn und Pächter waren pflichtschuldigst der Aufforderung gefolgt, an diesem Abend zu erscheinen. Sie waren herzitiert worden, dachte Claudia grimmig, denn wenn der Hüter von Incarceron einlud, dann konnte man das nicht ausschlagen. Selbst Mistress Sylvia, die annähernd zweihundert Jahre alt sein musste, flirtete und betrieb gepflegte Konversation mit dem gelangweilten jungen Lord neben ihr.
Während Claudia ihn beobachtete, unterdrückte der junge Lord gerade sorgsam ein Gähnen. Er fing ihren Blick auf, und sie lächelte ihn strahlend an. Dann zwinkerte sie ihm zu, und er erstarrte. Sie wusste, dass sie ihn nicht aufziehen sollte; er war einer der Dienstboten ihres Vaters, und die Tochter des Hüters stand weit über ihm. Trotzdem war sie ebenfalls gelangweilt.
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Nach endlosen Gängen von Fisch und Pfau, gebratenem Wildschwein und kandierten Früchten spielten die Musiker hoch oben auf der kerzenerleuchteten Galerie über der rauchigen Halle zum Tanz auf. Claudia tauchte unter den erhobenen Armen der langen Reihe von Tänzern hindurch und fragte sich plötzlich, ob die Instrumente überhaupt passend waren. Stammten die Bratschen nicht aus einer viel späteren Zeit? Nun, das musste wohl passieren, wenn man die Details Ralph überlieÃ. Der alte Angestellte war zwar ein ausgezeichneter Diener, aber seine Nachforschungen entpuppten sich manchmal doch als etwas schlampig. Wenn ihr Vater nicht da war, war ihr das egal. Aber der Hüter nahm es sehr genau mit den Details.
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Es war lange nach Mitternacht, als sie endlich die letzten Gäste zu ihren Kutschen brachte und allein auf der Treppe zum Herrenhaus stand. Hinter ihr harrten zwei schläfrige Fackelträger aus, deren Leuchten im Windzug flackerten.
»Geht zu Bett«, sagte sie, ohne sich umzudrehen.
Der tanzende Schein und das Knistern der Flammen entfernten sich. Die Nacht war still.
Kaum waren sie fort, rannte Claudia die Treppe hinunter und unter dem Bogen des Torhauses hindurch zur Brücke über den Graben. Dort sog sie tief die Stille der warmen Nacht in sich auf. Fledermäuse schwirrten am Himmel, und während Claudia ihnen zusah, nahm sie den steifen Rüschenkragen und die Halskette ab und lieà unter ihrem Kleid die gestärkten Unterröcke zu Boden gleiten, trat aus ihnen heraus und stopfte voller Erleichterung alles in das Geheimversteck unter der Bank.
Schon viel besser! Die Sachen würden bis morgen dort bleiben können.
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Ihr Vater hatte sich bereits zu früherer Stunde zurückgezogen. Er hatte Lord Evian mit hinauf in die Bibliothek genommen; vielleicht waren sie noch immer dort, regelten Geldangelegenheiten, trafen Absprachen oder diskutierten über Claudias Zukunft. Und später, wenn der Gast des Hüters gegangen war und sich Stille über das ganze Haus gelegt hatte, dann würde ihr Vater den schwarzen Samtvorhang am Ende des Flures zur Seite schieben und mithilfe der geheimen Kombination die Tür zu seinem Arbeitszimmer öffnen. Seit Monaten schon versuchte sie, diesen Code herauszufinden. Ihr Vater würde für Stunden, vielleicht sogar für Tage in seinem Arbeitszimmer bleiben. Soviel sie wusste, hatte niemand anders je diesen Raum betreten. Kein Diener, kein Techniker, nicht einmal Medlicote, sein Sekretär. Und auch sie selbst war nie im Innern gewesen.
Nun ja: noch nicht.
Als sie den Blick zum Nordturm hob, sah sie, wie erwartet, eine winzige Kerzenflamme im Fenster des obersten Zimmers. Rasch ging sie zu der Tür in der Mauer, öffnete sie und stieg in der Dunkelheit die Treppe
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