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Incarceron

Incarceron

Titel: Incarceron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Catherine Fisher
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empor.
    Für den Hüter war sie ein Werkzeug. Ein Ding, das er selbst erschaffen hatte … herangezogen hatte, wie er es gerne ausdrückte. Sie presste die Lippen zusammen, und ihre Finger ertasteten die kalte, beschlagene Mauer. Schon vor langer Zeit hatte sie eins begriffen: Seine Skrupellosigkeit war so groß, dass sie ihm in nichts nachstehen durfte, wenn sie überleben wollte.
    Liebte ihr Vater sie? Als sie auf einem steinernen Treppenabsatz langsamer wurde, um Atem zu schöpfen, lachte sie in stiller Belustigung. Sie hatte keine Ahnung. Liebte sie ihn? Auf jeden Fall fürchtete sie ihn. Er lächelte sie an, hatte sie manchmal auf den Arm genommen, als sie noch klein gewesen war, hatte bei wichtigen Gelegenheiten ihre Hand gehalten, und er bewunderte ihre Kleider. Er hatte ihr nie einen Wunsch versagt, hatte sie nie geschlagen und war niemals zornig geworden, selbst dann nicht, als sie einen Wutanfall bekommen und die Perlenkette  – ein Geschenk von ihm  – zerrissen hatte oder als sie in die Berge davongeritten und tagelang fortgeblieben war. Und doch hatte die Ruhe seiner kalten, grauen Augen ihr entsetzliche Angst gemacht, solange sie sich erinnern konnte, und die Furcht, sein Missfallen zu erregen, schwebte allzeit über ihr.
    Â 
    Jenseits des dritten Treppenabsatzes waren die Stufen von Vogeldreck übersät. Und dieser war auf jeden Fall echt. Claudia stapfte hindurch, tastete sich den Gang entlang bis zur nächsten Biegung, stieg drei weitere Stufen empor und blieb vor einer eisenbeschlagenen Tür stehen. Sie griff nach dem Türring, drehte ihn langsam und spähte hinein.

    Â»Jared? Ich bin’s.«
    Der Raum lag im Dunkeln. Eine einzige Kerze brannte auf dem Fenstersims, und die Flamme flackerte im Luftzug. Ringsherum im Turm boten die Fenster einen freien Blick hinaus, was eine solche Missachtung des Protokolls war, dass Ralph einen Anfall bekommen hätte.
    Das Dach des Observatoriums stand auf stählernen Streben, die so schmal waren, dass es den Anschein hatte, es würde schweben. Ein großes Teleskop war so gedreht worden, dass es nach Süden blickte. Auf ihm leuchteten Peilsucher, Infrarotleser und ein kleiner, flackernder Monitorschirm. Claudia schüttelte den Kopf. »Also wirklich! Wenn der Spion der Königin das zu sehen kriegt, wird uns die Geldstrafe ruinieren.«
    Â»Das wird er nicht. Nicht, nachdem er heute Abend solche Mengen von Apfelwein getrunken hat.«
    Zuerst konnte sie den Sprecher gar nicht entdecken. Dann bewegte sich ein Schatten am Fenster, und aus der Dunkelheit schälte sich ein schlanker Umriss, der sich von dem Bildsucher aufrichtete. »Sieh dir das mal an, Claudia.«
    Sie tastete sich ihren Weg durch den Raum, an den voll beladenen Tischen, dem Astrolabium und an den herabhängenden Globen vorbei. Ein aufgeschreckter junger Fuchs huschte zum Fenstersims.
    Jared packte Claudia am Arm und führte sie zum Teleskop.
    Â»Nebula f345. Sie nennen es die Rose .«
    Als sie durch das Teleskop sah, wusste sie, warum. Der milchige Haufen explodierter Sterne, der den dunklen Kreis des Himmels ausfüllte, öffnete sich wie die Blüte einer riesigen Blume, Tausende von Lichtjahren entfernt. Eine Blume aus Sternen und Quasaren, Welten und schwarzen Löchern, deren schmelzflüssige Herzen von Gaswolken pulsierten.
    Â»Wie weit ist sie entfernt?«

    Â»Tausend Lichtjahre.«
    Â»Also ist das, was ich mir anschaue, tausend Jahre alt?«
    Â»Vielleicht sogar noch älter.«
    Ihr war schwindelig, als sie ihre Augen von den Linsen abwandte. Sie drehte ihr Gesicht zu Jared, und winzige Lichtblitze ließen ihr Sichtfeld verschwimmen. Sie tanzten über Jareds zerzaustes, dunkles Haar, sein schmales Gesicht, den dürren Körper und die geöffnete Tunika unter seiner Robe.
    Â»Er treibt die Hochzeit voran«, sagte sie.
    Ihr Lehrer runzelte die Stirn. »Ja. Natürlich.«
    Â»Du wusstest das?«
    Â»Ich wusste, dass der Earl die Akademie verlassen musste.«
    Er trat ins Kerzenlicht, und sie sah, wie seine grünen Augen den Schein einfingen. »Sie haben mir heute Morgen eine Nachricht geschickt. Ich habe solche Konsequenzen erwartet.«
    Verärgert nahm Claudia einen Stapel Papiere vom Sofa und ließ ihn unsanft auf den Fußboden fallen, ließ sich erschöpft sinken und legte ihre Füße hoch. »Nun, du hattest recht. Wir haben noch zwei Tage.

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