Incarceron
Mund.
»Ich bin gerührt«, erwiderte ihr Vater trocken.
Dann zog er einen Handschuh aus, wedelte den Staub vom Sitz, stellte seinen Stock ab, legte ein Buch neben sich und rief schlieÃlich dem Kutscher zu: »Weiter gehtâs!«
Das Gefährt quietschte, als die Pferde wieder anzogen. In dem Augenblick, in dem die Geschirre der Zugtiere klirrten und die Kutsche im Hof des Gasthauses einen Kreis beschrieb, versuchte Claudia, sich zu konzentrieren und zu verhindern, dass sie in eine Falle des Hüters tappte. Aber ihre Angst war zu groÃ. »Wo ist Jared? Ich dachte â¦Â«
»Ich habe ihn gebeten, heute Morgen bei Alys in der dritten Kutsche mitzufahren. Ich hatte das Gefühl, wir sollten uns mal unterhalten.«
Das war natürlich ein Affront, auch wenn es Jared nicht das Geringste ausmachen würde, und Alys dürfte ganz aus dem Häuschen sein vor Freude darüber, ihn mal für sich zu haben. Aber einen Sapienten wie einen Dienstboten zu behandeln ⦠Claudia kochte vor Zorn.
Ihr Vater beobachtete sie einen Moment lang, dann schaute er aus dem Fenster, und Claudia fiel auf, dass er ein wenig mehr Grau als sonst in seinem Bart hatte stehen lassen, sodass sein ernster, hochmütiger Gesichtsausdruck noch verstärkt wurde.
Er sagte: »Claudia, vor einigen Tagen fragtest du mich nach deiner Mutter.«
Wenn er ihr einen Schlag ins Gesicht versetzt hätte, hätte sie nicht verblüffter sein können. Doch dann, von einer Sekunde auf die andere, wich ihre Ãberraschung einer äuÃersten Wachsamkeit. Es sah ihrem Vater ähnlich, die Initiative zu ergreifen, den Spieà umzudrehen und selbst anzugreifen. Bei Hofe war er als ausgezeichneter Schachspieler bekannt. Seine Tochter war für ihn nur ein Bauer auf seinem Schachbrett, ein Bauer, aus dem er eine Königin machen wollte, koste es, was es wolle.
AuÃerhalb der Kutsche ging ein sanfter Sommerregen nieder und tränkte die Felder. Alles roch süà und frisch. Claudia sagte gedehnt: »Ja, das habe ich.«
Der Hüter blickte hinaus in die Landschaft, und seine Finger spielten mit den schwarzen Handschuhen. »Es ist sehr schwer für mich, über sie zu sprechen, aber heute, auf dieser Reise, an deren Ziel alles wartet, wofür ich stets gearbeitet habe, ist die Zeit vielleicht endlich gekommen.«
Claudia biss sich auf die Lippen. Alles, was sie fühlte, war Furcht, aber einen Augenblick lang, nur für den Bruchteil einer Sekunde, verspürte sie auch etwas, das sie ihrem Vater gegenüber noch nie zuvor empfunden hatte. Er tat ihr leid.
18
Wir haben unsere Liebsten und Besten als Tribut dargebracht,
und nun warten wir auf den Ausgang. Auch wenn es Jahrhunderte
dauern sollte, werden wir nicht vergessen. Wie Wölfe werden wir
Wache halten. Wenn es gilt, Rache zu nehmen, dann werden wir
dazu bereit sein.
DIE STAHLWÃLFE
Â
Â
I ch war schon in der Mitte meines Lebens, als ich heiratete.« John Arlex lieà den Blick auf den dichten Schatten der sommerlichen, üppigen Baumkronen ruhen, die nur einzelne Sprenkel von Sonnenschein in das Innere der Kutsche hindurchlieÃen. »Damals war ich bereits ein wohlhabender Mann. Unsere Familie hatte schon immer zum Hof gehört, und der Posten als Hüter war seit meiner Jugend für mich vorgesehen gewesen. Das ist eine groÃe Verantwortung, Claudia. Du hast ja keine Ahnung, wie groÃ.« Er seufzte kurz.
Die Kutsche holperte über Steine. Claudia hatte den Kristallschlüssel in einer Innentasche ihres Reiseumhangs verstaut, und als sie ihn jetzt gegen ihr Knie schlagen spürte, erinnerte sie sich an Finns Angst und an sein ausgemergeltes Gesicht. Sahen alle in dem Gefängnis, das ihr Vater beaufsichtigte, so aus?
»Helena war eine wunderschöne und elegante Frau. Unsere Ehe war nicht arrangiert, sondern sie erwuchs aus einer zufälligen
Begegnung während eines Winterballs bei Hofe. Zu dieser Zeit war Helena die Kammerzofe der letzten Königin, Gilesâ Mutter. Sie war ein Waisenkind und die Letzte ihrer Ahnenreihe.«
Er machte eine Pause, als wollte er, dass Claudia etwas sagte, doch das tat sie nicht. Sie spürte, dass sie den Bann brechen würde, wenn sie nun das Wort ergriffe, und dass ihr Vater danach nicht mehr weitersprechen würde. Er sah sie nicht an, sondern fuhr mit leiser Stimme fort: »Ich liebte sie sehr.«
Claudia hatte ihre Hände
Weitere Kostenlose Bücher