Incognita
Badezimmer seinen Morgenmantel über und ging zur Tür. Beinahe erwartete er Gordon Cox im grellgelben Polohemd, aber es war nur ein Fahrer von FedEx mit einer in Packpapier eingewickelten Lieferung. John unterschrieb die Empfangsbestätigung und trug das Paket ins Wohnzimmer. Laura war inzwischen aufgewacht und blinzelte gegen die Helligkeit im Raum an.
»Guten Morgen«, murmelte sie verschlafen. »Was ist das?«
»Keine Ahnung. Aber wir werden es gleich wissen.«
Er riss die dick gepolsterte Verpackung auf. Zum Vorschein kam ein gerahmtes Bild, etwa 40 x 50 Zentimeter, besser gesagt ein alter Kupferstich, der einen Ausschnitt des südamerikanischen Kontinents zeigte. Bei näherer Betrachtung stellte John fest, dass es sich um dasselbe Bild handelte, das bei der Eröffnung der Museumsausstellung als vergrößerte Reproduktion hinter dem Rednerpult gestanden hatte. Über dem weiten Landstrich des Amazonas-Beckens stand in kalligraphischen Buchstaben Terra incognita .
Als John das Bild mit beiden Händen anhob, um es genauer zu betrachten, fiel eine Karte zu Boden, die lose mitverpackt worden war. John hob sie auf und las:
Als Dank für die großzügige Unterstützung unseres Museums. Ein Original aus dem 16. Jahrhundert. Ich hoffe, es trifft Ihren Geschmack. Andrew Lewelin
PS: Keine Sorge, das Bild stammt aus unserem Fundus und wurde nicht mit Ihrem eigenen Geld erworben.
»Ein Geschenk von Andrew«, sagte John ehrlich überrascht und betrachtete das Bild genauer. Es war mit einer in Latein verfassten Überschrift versehen, die John jedoch mühelos übersetzen konnte: Kolonien des spanischen Königreichs in der Neuen Welt. Darunter stand, in welchem Jahr die Karte angefertigt worden war: MDLXVII A.D. – 1567 Anno Domini, also kurz nach der ersten Durchquerung des Amazonas-Beckens durch die spanischen Konquistadoren.
Der Künstler hatte sich größte Mühe gegeben, die Karte lebendig zu gestalten. Sie zeigte nicht nur die geografischen Gegebenheiten, soweit sie zum damaligen Zeitpunkt bekannt gewesen waren, sondern auch viele liebevoll gestaltete Illustrationen: Pflanzen und Tiere bestimmter Regionen oder Eingeborene, die an den Ufern des Amazonas siedelten und sich je nach Stammeszugehörigkeit deutlich voneinander unterschieden. Aber auch Legenden und Mythen hatten in die Karte Eingang gefunden, ganz, wie es zur damaligen Zeit üblich gewesen war. Im Mündungsbecken des Amazonas erkannte John ein Meeresungeheuer mit gefletschten Zähnen, eine Art Seeschlange, weiter flussaufwärts zwei halbnackte Kriegerinnen mit Pfeil und Bogen, die sagenumwobenen Amazonen. Je weiter sein Blick ins Zentrum der Karte wanderte, desto abenteuerlicher wurden die kleinen Bildchen: gnomenhafte Gestalten und märchenhafte Tierfiguren in Landstrichen, die es so gar nicht gab.
John schmunzelte. Auf diesem Bild vermischten sich Realität und Fantasie, genau wie in seinem Traum. Aber letztlich waren es eben diese fantasievollen Darstellungen, die alte Landkarten so faszinierend machten und einem modernen Menschen wenigstens ansatzweise aufzeigten, wie man sich früher die Welt vorstellte. Denn eines durfte man nicht vergessen: Damals glaubte man an all diese Dinge, auch wenn das aus heutiger Sicht lächerlich schien.
John hörte, wie im Bad der Fön anging. Er stellte das Bild beiseite und beschloss, eine ausgiebige heiße Dusche zu nehmen. Danach verspürte er Lust auf ein gemütliches Frühstück mit Laura, doch dafür war sie bereits zu spät dran. Sie hatte sich zum Mittagessen mit einem Mandanten in der Stadt verabredet, um seinen Fall mit ihm zu besprechen. John selbst hatte sich für den Rest der Woche noch frei genommen. Also frühstückte er allein. Zwischendurch hängte er den Kupferstich auf, weil er darauf brannte zu sehen, wie sich das Kunstwerk im Wohnzimmer machen würde. Er wählte den Platz direkt neben der Schrankwand, wo sich bislang ein Ölgemälde von Jackson Pollock befand – aber zu den Antiquitäten auf dem Sideboard hatte es nie gepasst. Die alte Landkarte fügte sich hingegen hervorragend ins Gesamtarrangement. Eine größere Freude hätte Lewelin John kaum bereiten können.
Er ging in die Küche zurück und goss sich Kaffee nach. Fast zwangsläufig beschäftigte er sich wieder mit der Frage, an welchem Projekt Gordon Cox arbeitete und weshalb die Ljuganow-Brüder sich dafür interessierten. Ein Freizeitpark konnte es nicht sein – so etwas hätte Gordon niemals geheim halten können. Was also dann?
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