Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)
wurde eingestellt, der Strom auch. Das Krankenhaus für Minenarbeiter haben sie geschlossen.«
Wir durchqueren die Kantine der Mysore Mine. Der intakte weiße Steintisch und der detaillierte Stollenplan an der Längsseite vermitteln den Anschein, die Kumpel wären eben erst zur Schicht gefahren. Ich stelle mir vor, wie sie auf der Bank sitzen, ihre mehrstöckigen, runden Metallboxen auspacken, die indische Version des Henkelmanns, und hungrig Reiskuchen und Linsenfladen in sich hineinschaufeln. Gewöhnliche Männer mit gewöhnlichen Jobs. Sie denken an ihre Kinder und Frauen und sprechen über Kricket und Mopeds, bevor sie mit der sogenannten Rutsche durch den Hauptschacht ins Erdreich geschossen werden. 3,2 Kilometer tief war der Mysore-Schacht, einer der längsten von Kolar. Ravishankar zeigt mir den Eingang. Er ist mit Feldsteinen zugeschüttet. »Damit keiner runterklettern kann, um sich zu nehmen, was ihm sowieso gehört. Da unten liegt noch jede Menge Gold.«
Wir bahnen uns weiter einen Weg über Quarzhalden und durch Dornengestrüpp und erreichen eine staubige Piste,
die von einer drei Meter hohen Rohrleitung flankiert wird. Ravishankar ignoriert, dass ich aufschreie, weil ich in einen Dorn getreten bin. Mit gelangweiltem Blick wartet er in der gleißenden Mittagssonne vor einem schiefen Gittertor, bis ich den Zehn-Zentimeter-Splitter aus Fußsohle und Badelatschen entfernt habe. An der anderen Seite des Tores lehnen lässig zwei Uniformierte. Der eine trägt den notorischen, Lathi genannten Kampfstock, die indische Variante des Polizeiknüppels, der andere eine doppelläufige Flinte über der Schulter. Vom Blechdach des Wachhäuschens baumelt eine mit Draht befestigte Taschenlampe. Vor einer zum Ofen umfunktionierten Metalltonne steht ein Metallsessel ohne Polster. Eine zersauste Hündin taucht auf und kratzt sich mit dem Hinterbein am Bauch. Ein heißer Wind trägt Hindimusik von irgendwo aus dem Chaos der postindustriellen Steppenlandschaft herüber.
»In den Hallen auf diesem Gelände wurde das Gold gewaschen«, sagt Ravishankar. »Aber wenn du die Anlagen sehen willst, musst du auf den Boss der Wächter warten. Los, hol ein paar Scheine raus.« Ungeniert starrt er in mein Portemonaie, aus dem ich zwei Fünfzigrupiennoten fummele und durch das Drahtgitter den beiden Wachmännern reiche.
Nach einer halben Stunde erscheint Security Supervisor Francis Peter am Zaun, ein korpulenter Mann mit ausladendem Gesäß und Entengang. Er trägt vier weiße Sterne auf den Schultern der olivfarbenen Uniform, seine hellblaue Armbanduhr ist nach innen gedreht.
»Sie können hier nicht rein, Sie müssen sich eine Genehmigung holen. Beim Büro der Bharat Gold Mines. Das geht aber erst übermorgen. Sonntags ist es geschlossen.«
»Ich will nur mal kurz reinschauen. Ich schreibe ein Buch über Indien.«
Peter hält den Finger an den Oberlippenbart und blickt nachdenklich. »Was denken Sie über die Briten?«
»Für mich macht es keinen Unterschied, woher jemand kommt. Es gibt überall gute und schlechte Menschen.«
»Falsch«, sagt er. »In Indien gibt es mehr schlechte Menschen als in England. Die Leute hier sind faul. Weil sie nicht an Gott glauben. Die Briten haben diese Fabrik gebaut. Sie hält bis heute. Kein Inder könnte das. Sind sie Christ?«
»Ja«, sage ich und bin mir bewusst, dass das wenigstens halb gelogen ist. Ich will unbedingt in die Fabrik. Und ich will darauf nicht einen Tag warten.
»Okay, kommen Sie. Aber schreiben Sie was Gutes darüber. Schreiben Sie, dass alles in bestem Zustand ist. Dass der Abbau jederzeit wieder losgehen kann. Die Menschen hier warten darauf.«
Peter geht auf einen Gebäudekomplex zu, der sich hinter einem Akazienhain verbirgt, und öffnet das Vorhängeschloss zu einem unscheinbaren Seiteneingang. Dahinter schließt sich eine aus Backsteinen gemauerte Arbeitshalle an die andere an. Durch die offenen Oberlichter fällt die frühe Nachmittagssonne spärlich auf Irrgärten von Förderbändern, auf Zertrümmermaschinen, auf riesige, mit Löchern versehene Trommeln, auf Druckluftkompressoren, Drainagesystem und Pumpenkammer. Alles wirkt gut erhalten, aber völlig eingerostet.
»Die Mine wurde 1880 von der Firma John Taylor gegründet«, sagt Peter und guckt mich prüfend an, als wolle er sich vergewissern, dass ich den Namen richtig verstanden habe. »Bis zum Schluss kamen die meisten Maschinen aus England.« Er wischt den fingerdicken Dreck von einem gusseisernen Monstrum
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