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Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)

Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)

Titel: Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Schulz
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in der Form einer Baggerschaufel, auf dem der Schriftzug »Sandycroft« steht. »Die Polizei hat die Maschinen zerstört, damit keiner sie klaut. Die Inder hassen die Briten.
Weil sie vergessen haben, wie gut sie eigentlich von ihnen gelebt haben.«
    Peter erklärt mir die Drainage und das Pumpensystem. Er beschreibt mir, wie das Gestein zerstoßen und zermahlen wurde, wie der Staub in den Trommeln mit Zyanid versetzt und mit Sauerstoff versorgt wurde, damit sich schließlich, unter der Beigabe von Zink, das Gold löste. »Damals«, sagt er immer wieder. Es klingt, als spreche er von einem anderen Zeitalter.
    »Kolar war der erste Ort in Asien, der elektrischen Strom bekam«, sagt Peter, als ich hinter ihm wieder nach draußen trete. »Heute sitzen wir nachts im Dunkeln. Wie ein Mann, der plötzlich blind geworden ist.«
    Er entlässt mich durch das schiefe Blechtor. Aber Ravishankar ist fort. Ich suche ihn in der nahen Siedlung. Ich wandere durch den Ort aus säuberlich geweißten Häusern, die so klein sind, das in Europa nicht einmal eine Person darin wohnen würde. Hier finden ganze Großfamilien darin Platz. Ich spreche mit einem jungen Mann, der sagt, er sei ausgebildeter Ingenieur. Manchmal finde er jetzt in Bangalore Arbeit für eine oder zwei Wochen. »Aber die Fahrt dorthin und die Übernachtungen sind so teuer, dass es sich nicht lohnt.« Ein grauhaariger Pensionär steht vor seinem Geschäft, in dessen Auslage es nichts gibt als Streichhölzer und Kerzen, Zigaretten und Kartoffelchips. »Keiner hier hat Geld«, sagt er.
    Ich setze mich in das Teehaus, bestelle einen Tee und schlinge vier Samosa, frittierte Teigtaschen, hinunter. Der Dicke im Feinripp-Unterhemd ist von seinem Nähtisch aufgestanden. Jetzt schneidet er am Tresen mit einem langen, rostigen Messer Schalotten. Drei ältere Herren treten ein. Sie hocken sich schweigend ans andere Ende des rohen Holztisches. Ich frage sie, wovon sie leben. Und bekomme keine
Antwort. Ich frage sie, ob sie Rente bekommen. Sie schweigen beharrlich.
    Plötzlich steht ein junger Mann mit einer Spiegelbrille, aus der mich zwei Totenköpfe angrinsen, neben mir. »Wir sind es leid, Fragen zu beantworten«, sagt er. »Wir haben schon alles erzählt. Und allen: den Zeitungen, dem Fernsehen. Unsere Fotos waren auf den Titelseiten der Magazine, unsere Worte waren im Radio zu hören. Aber am Ende haben wir nichts davon gehabt. Außer entwürdigt zu werden. Und die anderen haben dabei Geld verdient.«
    Während er weiter schimpft, tritt Ravishankar in die Tür. »Du hast gesehen, was zu sehen ist«, sagt er. »Es ist besser, wenn du jetzt gehst.« Die drei Alten stehen hinter ihm und werfen mir feindselige Blicke zu. Jetzt hält der Mann mit der Totenkopfbrille das rostige Schalottenmesser in der Hand. Er schleudert es in die Luft, sodass es sich zweimal überschlägt, und fängt es gekonnt am Griff wieder auf.
    Ich drehe mich nicht um. Ich halte den Stock umklammert und haste im roten Licht der schrägen Sonne dem Abend entgegen. Nach einer halben Stunde erreiche ich jenseits der aufgewühlten Goldfelder ein nach Osten abfallendes Plateau, weites Grasland, in dem einzelne Baumgruppen stehen. Im Schutz des Gestrüpps am Rand der Piste lehne ich mich an einen weißen, wackelnden Monolithen. Daneben erkenne ich noch einen. Und dann ein ganzes Dutzend. Es sind die Überreste eines kolonialen Friedhofs.
    Das Gräberfeld liegt in Trümmern, fast alle Ruhestätten sind geplündert, selbst die Steine der Kindergräber in Stücke gehauen. Ich entziffere die vergilbten Aufschriften: Jung sind die Kolonialherren verstorben, die hier um die vorvergangene Jahrhundertwende beigesetzt wurden. William Moss aus Lancashire brachte es immerhin auf neunundvierzig Jahre,
James A. Harris aus London, dem die »liebende Gattin« einen Stein setzte, verstarb schon mit fünfunddreißig, ebenso John L. James. Und der arme John Sincock aus Cornwall verschied bereits mit fünfundzwanzig. »Hitzschlag« ist als eine der häufigeren Todesursachen in den Stein gehauen. Wie es wohl ist, in der Fremde zu sterben? Ich will es mir gar nicht vorstellen.
    Als ich den Friedhof in der Dämmerung verlasse, entdecke ich jenseits der zerfallenen Mauern ein Grab, darauf tanzt eine Kinderstatue mit abgeschlagenen Armen. Anstelle der Augen klaffen tiefe Höhlen im pausbackigen Gesicht. Ich bin sicher, dass sie einst mit Gold gefüllt waren.

Hanuman
    Am nächsten Tag bin ich wieder auf dem Weg nach Kolar. Die

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