Indigo - Das Erwachen
lieÃ.
Jetzt, wo er vor der Tür stand, die er niemals wiederzusehen geglaubt hatte, musste er all seinen Mut zusammennehmen. Als er das Haus noch mit den Augen eines Kindes gesehen hatte, hatte es riesig und wie verzaubert gewirkt. Jeder Raum hatte sein eigenes Geheimnis. Jede alte Lagerkiste erzählte eine Geschichte. Dass er wieder hier war, löste Erinnerungen an einen Teil seiner Kindheit aus, der immer etwas Besonderes für ihn sein würde. Es überraschte ihn, dass sich dieser Ort nach all den Jahren â und allem, was passiert war â noch immer genauso anfühlte wie früher.
Es war das Schuldbewusstsein, das ihn davon abhielt, an die Tür zu klopfen. Er warf Rayne, die hinter ihm stand, einen Blick zu. Sie zuckte nur mit den Achseln und drängte ihn nicht, sondern rang sich sogar ein angespanntes Lächeln ab. Anscheinend spürte sie,wie schwer es ihm gefallen war herzukommen. Wenn sich sein Magen nicht angefühlt hätte wie ein Hinkelstein, hätte er sie geküsst.
Als er die Hand nach der Klingel ausstreckte, bewegte sich die Tür von selbst und öffnete sich mit einem lauten, rostigen Knarren.
âHeilige Schâ¦â, kreischte Rayne und machte vor Schreck einen Satz. Dann packte sie Gabe beim Arm und schien nicht vorzuhaben, ihn wieder loszulassen.
Die schwere Holztür glitt an ihren uralten Metallangeln langsam auf und sog trockenes Laub in das aufklaffende Maul des Herrenhauses. Gabe rührte sich nicht vom Fleck. Er starrte in die Dunkelheit und wartete ab, wer die Tür geöffnet hatte.
Doch ehe er etwas erkennen konnte, hörte er ein vertrautes Knurren. Hellboy hatte sich schützend vor ihm aufgebaut und wollte ihn nicht über die Schwelle lassen.
âTut mir leidâ, sagte Gabe zu Rayne. âSein Beschützerinstinkt ist ziemlich ausgeprägt.â
Sie klammerte sich weiter an seinem Arm fest und sagte: âWenn das unser einziges Problem ist, ruf einfach den Hundeflüsterer an.â
Gabe legte einen Arm um sie und folgte Hellboy ins Innere des Hauses. Der groÃe Körper des Hundes schwebte über dem Boden und bewegte sich mit gespenstischer Anmut. Jeder Muskel, den er einmal gehabt hatte, zitterte in seinen Läufen und seinem Rücken unter einem Fell, das aussah wie ein Wirbel aus dichtem Nebel. Mit zurückgelegten Ohren und gesenktem Kopf starrte er in die Dunkelheit und bewegte sich nur langsam vorwärts. Sein Knurren verfolgte ihn und hallte in der Leere des Foyers wider, bis er plötzlich innehielt und angespannt schnüffelte.
Bevor Gabe die Anwesenheit von jemand spürte, wedelte Hellboy mit dem Schwanz. Eine Stimme durchdrang die dünne Luft.
âWie schön, Sie wiederzusehen, Master Gabriel.â
Als Gabe die vertraute Stimme hörte, machte er einen Satz und fuhr herum. Doch was er sah, entsprach nicht ganz seinen Erwartungen. Denn es war nur der Geist des Hausdieners, der schimmernd durchs Dunkel wirbelte. Zuerst erschienen die Augen, dann zwei schwebende Lippen und ein kleiner Schmerbauch. Als er sich Gabriel endlich ganz zeigte, trug er die formelle Livree, in die er zu Lebzeiten stets gekleidet gewesen war.
âFrederick?â Gabriels Hals war so trocken wie die Mojavewüste. âSie haben schon mal ⦠besser ausgesehen.â
âJa, ich muss einräumen, dass ich im Augenblick nicht in Hochform bin.â Frederick hob eine Braue. âAber vom Tod lasse ich mich nicht aufhalten, Sir.â
âDas ist genau die richtige Einstellung.â
âMit wem redest du, Gabriel?â, fragte Rayne.
Ehe Gabe zu einer Erklärung ansetzen konnte, kam ihm der Butler zur Hilfe. âOh, meine Liebe, es tut mir leid. Wie unhöflich von mir. Ist es besser so?â
Der tote Diener schloss die Augen, schob sich einen Daumen in den Mund und pustete hinein wie in eine Trompete. Seine Augen quollen hervor wie eine Rauchwolke und knisterten wie ein Kaminfeuer. Nach wenigen Sekunden hatte er genug Form angenommen, dass auch Rayne ihn sehen konnte.
Sie gab einen gellenden Schrei von sich und wäre wohl gestürzt, wenn Gabe sie nicht aufgefangen hätte.
âIch muss mich setzenâ, sagte sie schwach. Als Hellboy sie winselnd und mit schief gelegtem Kopf ansah, seufzte sie auf. âGibt es hier eigentlich auch irgendwen, der noch am Leben ist?â
Erst jetzt fiel Gabriel auf, dass er die Antwort auf diese grundlegende Frage gar nicht kannte. Er
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