Indigo - Das Erwachen
Die Antwort war eindeutig.
Der Junge, der Rayne Darby ins Museum begleitet hatte, war nicht Lucas.
Unmöglich, dachte sie, während sie nach dem Klemmbrett mit der Krankengeschichte griff, das vor einem der Krankenhauszimmer hing. Sie trat ein und blätterte rasch die Seiten des Berichts über den schläfrigen Jungen durch, der an eine Liege gefesselt in der Mitte des Raums lag. Für die Behandlung waren ihm Beruhigungsmittel eingeflöÃt worden, doch das verhinderte nur selten, dass die Kinder zu zittern begannen, wenn sie begriffen, dass sie Fiona vollkommen ausgeliefert waren. Ein Plastikbeutel voller Flüssigkeit, die mit Betäubungsmitteln versetzt war, hing neben seinem Kopf. Fiona verstärkte die Dosis und wartete, bis der Junge die Augen schloss.
âDas ist ein wichtiger Tag für dich. Sehr bedeutsam.â Sie strich ihm über die Wange und sah ihm in die Augen.
âNur noch ein letzter Eingriff, dann bin ich fertig mit dir. Versprochen.â Fiona wuschelte ihm durchs Haar und zwang sich zu einem Lächeln. âUnd jetzt mach die Augen zu und lass mich meine Arbeit machen. Ich habe heute viel zu tun.â
Es war das letzte Mal, dass er ihre Stimme hören würde. Sie hatte alle notwendigen Informationen aus ihm gewonnen. Manche Kinder wurden ihren Ansprüchen einfach nicht gerecht oder weigerten sich, angemessen zu kooperieren. Doch dieser Junge hier hatte ihr all seine Geheimnisse preisgegeben.
Sie hatte ihn nicht belogen. Heute war ein wichtiger Tag für ihn. Nun galt es nur noch einen einzigen Eingriff vorzunehmen â einen, der ein Opfer seinerseits zum Wohle der Wissenschaft erforderte. Sie hatte bessere Verwendung für sein Gehirn als er selbst. So oder so bekam sie stets von den Kindern, was sie wollte. Ihr Bestes. Als eine Krankenschwester den Raum betrat, warf Fiona ihr einen kurzen Blick zu und wies sie an: âBereiten Sie ihn auf die Operation vor. Und arrangieren Sie die Beseitigung seines Leichnams. Dieser hier wird nicht bleiben. Wir können das Bett gut brauchen.â
âJa, Doktor.â
Während die Schwester den Jungen vorbereitete, spielte Fiona in Gedanken erneut die Eindrücke aus der Bibliothek durch und besonders das, was sie in dem Rucksack gefunden hatte. All das musste durch das Wirken eines Kristallkindes entstanden sein. Ihre Instinkte konnten nicht trügen. Sie war felsenfest davon überzeugt gewesen, dass der Junge im Kapuzenpullover, der sich solche Mühe gegeben hatte, sein Gesicht zu verstecken, mehr zu verbergen hatte als nur seine Identität.
Und sie hatte sich nicht geirrt. Fiona lächelte, als sie den OP-Saal betrat, in dem nun die letzten Minuten im Leben des Jungen aus dem Krankenzimmer beginnen würden.
Auch ihr Instinkt bezüglich des Rucksacks war korrekt gewesen. Als sie den Inhalt ausgeleert hatte, um sich einen ersten Ãberblick zu verschaffen, war sie erst einmal enttäuscht gewesen. Ein Skizzenblock und ein Buch über Kunst im L.A. County aus dem Bibliotheksbestand, sonst hatte der Rucksack kaum etwas enthalten. Fast hätte sie aufgegeben, bis sie sich die Zeichnungen genauer ansah und ein Gesicht erkannte.
Das Gesicht von Lucas Darby. Er war auf zwei Zeichnungen deutlich zu erkennen.
Fiona hatte beide Bilder kopiert. Sie verfolgte einen Plan und wollte Alexander Reese damit überraschen, sobald sie Fortschritte erzielt hatte. Aber irgendetwas musste sie ihm heute schon mitteilen. Er erwartete einen vollständigen Bericht über den Vorfall im Museum. Es gab genug, was sie ihm schon jetzt erzählen konnte, doch das Beste würde sie sich für den Schluss aufheben.
Nach dem Eingriff würde sie die Zeichnungen durch das Tracker-Programm laufen lassen. Sollte die Suche in der Datenbank der Zielpersonen eine Ãbereinstimmung ergeben, wüsste sie gleich schon mehr über den Jungen, der die Bilder gemalt hatte. Wenn die Zeichnungen von Bedeutung waren, musste auch das Bibliotheksbuch wichtig sein, das der Junge hatte stehlen wollen.
Sie brauchte Zeit, um das Rätsel zu lösen, das dieser geheimnisvolle Junge hinterlassen hatte. Fiona wollte Alexander keine unausgegorene Theorie vorlegen. Sie würde warten, bis sie die Bedeutung des Buchs erkannt und die Tracker-Ergebnisse vorliegen hatte. Alexander erwartete nicht weniger als Perfektion von ihr, und sie glaubte, dieser Herausforderung gewachsen zu sein.
AuÃerdem war sie zuversichtlich, dass
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