Indigo - Das Erwachen
Zoo erstmals begegnet war und er ihr gezeigt hatte, wie er lebte, hatte er so verloren auf sie gewirkt. Etwas fehlte ihm. Wenn jemand dieses einsame Gefühl kannte, dann sie. Doch Gabriel gehörte hierher. Er hatte seinen Onkel und eine Vergangenheit, der er nicht einfach davonlaufen konnte. Was auch immer es war, das ihn verfolgte: Die Antworten befanden sich in diesem Haus. Sie beobachtete, wie sich seine Brust sanft hob und senkte, und unterdrückte das Bedürfnis, die dunkle Haarsträhne zurückzustreichen, die ihm in die Stirn gefallen war.
Sie wollte ihn berühren, ihn küssen. Jede Sekunde, die sie mit ihm verbrachte, fühlte sich an wie ein Traum, aus dem sie irgendwann allein erwachen würde. Während sie ihn beim Schlafen beobachtete, konnte sie sich problemlos vorstellen, wie er als Kind gewesen war. Ein auÃergewöhnlicher Junge, der mit seiner Mutter ein seltsam abenteuerliches Leben in einem fahrenden Zirkus geführt hatte.
Doch Rayne wusste, dass seine Geschichte nicht so einfach sein konnte. Etwas hatte ihn gezwungen, davonzulaufen, und seine Augen umschattete ein Kummer, der nicht zu übersehen war. Ohne ihn aufzuwecken, schlich sie sich wieder aus seinem Zimmer und schloss die Tür hinter sich.
Das Geheimnis, das Gabriel umgab, war im ganzen Haus spürbar.
Minuten später
Rayne verspürte ein starkes Bedürfnis, die langen Korridore des groÃen Anwesens allein zu erkunden, aber wenn sie keine Spur aus Brotkrumen hinterlieÃ, bestand wohl die realistische Gefahr, dass sie sich heillos verirrte. Sie hatte zwar Hunger, doch anstatt die Küche zu suchen, nahm sie den Weg zurück in den groÃen Saal, wo sie vor den Zirkusplakaten von Gabriel und seiner Mutter stehen blieb.
Sie betrachtete die Augen des Jungen, der Gabriel einmal gewesen war. Es war, als würde er direkt vor ihr stehen. Eine fesselnde Aura ging von ihm aus, und seine Mutter musste dieselbe Fähigkeit gehabt haben. Selbst jetzt konnte Rayne sich nicht abwenden â weder vom Sohn noch von der Mutter.
âGuten Morgen, meine Liebe.â
Der laute Klang der Männerstimme und die Schritte hinter ihr lieÃen Rayne zusammenfahren.
âÃhm ⦠hallo.â Sie schnappte nach Luft und fuhr herum.
Onkel Reginald war aufgetaucht und schien gar nicht zu bemerken, dass er sie erschreckt hatte. Er trug dunkle Anzughosen und ein weiÃes Hemd mit offenem Kragen und hochgerollten Ãrmeln. Er wirkte glücklicher â und jünger â als am Vorabend.
âSchläft er noch?â, fragte er. Als Rayne nickte, fuhr er fort: âDas sieht ihm gar nicht ähnlich.â
Rayne hätte ihm erzählen können, was im Museum passiert war â dass Gabe jedes Recht der Welt hatte, müde zu sein â, aber sie war sich nicht sicher, ob sie damit eine Grenze überschritten hätte.
âAls er noch ein Junge war, ist er hier morgens immer allein durch die Korridore gegeistert. Jeder Tag war für ihn ein neues groÃes Abenteuer. Ehe ich wusste, dass er die Gabe hat, dachte ich einfach, er hätte eine sehr lebendige Fantasie, dank der er sich stundenlang selbst beschäftigen kann. Aber dann ist mir klar geworden, dass seine seltsamen Freunde und auÃergewöhnlichen Haustiere gar nicht aus unserer Welt stammten. Er ist ein sehr besonderer Junge.â
Rayne musste grinsen, als Gabriels Onkel so unverhohlen amüsiert über die Fähigkeiten seines Neffen sprach. Sie konnte sich nicht vorstellen, so mit Mia über ihren Bruder zu sprechen. Ihre Schwester würde völlig durchdrehen. Immer, wenn Lucas nach dem Tod ihrer Eltern gesagt hatte, dass er sie immer noch sehen könne, hatte Mia ihn angefahren, dass er den Mund halten solle. Sie hatte sein Verhalten als grausam empfunden. Damals hatte Rayne noch gedacht, dass Luke auf diese Weise seinen Verlust verarbeitete. Aber wenn er wie Gabriel war, dann hatte er ihre Eltern vielleicht wirklich gesehen.
In Wahrheit wünschte sie sich, ihre Mom und ihr Dad hätten sich ihr gezeigt, doch das war niemals geschehen.
âSind Sie wie er?â, fragte sie. âIch meine, Sie leben hier mit Frederick. Können Sie auch in den Körper von Tieren schlüpfen?â
âSo viel wissen Sie also schon?â Onkel Reginald lächelte. âIch sehe, er vertraut Ihnen. Es kann sehr einsam sein, niemanden zu haben, mit dem man über unsere Fähigkeiten sprechen
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