Indigo (German Edition)
er vorbeikam, ein lachendes Gesicht.
Forever Young stand unter dem Gesicht.
Auf dem Nachhauseweg dachte er an die leere Wohnung. Er wusste, was er zu empfinden hatte. Cordula war weg. Sie hatte gepackt, alle ihre Kleider in die Reisetasche gestopft, die nach dem dunklen Jahr der schlimmen Panikattacken roch, und war an ihm vorbeigegangen. Sei froh, hatte sie zu ihm gesagt. Du hast es endlich geschafft.
Wenn er versuchte, darüber entsetzt zu sein, so wie heute Morgen in der Küche, war da nichts, nur die Erinnerung, wie sich ihr Bauch angefühlt hatte, als er ihn –
Er hielt den Moment an. Pausetaste. Aber es kam immer noch nichts.
Verwirrt trat er in eine Pizzeria am Jakominiplatz und bestellte eine Margherita zum Mitnehmen. Dann trug er den Karton wie eine Zeichenmappe nach Hause, Öl tropfte neben ihm auf die Straße, und er ließ es tropfen. Als er den Karton öffnete, war der Käse ganz auf eine Seite gerutscht. Schlaganfall-Pizza.
Draußen, in der Abenddämmerung, spielten nur mehr einige wenige Autos auf der Straße Fangen. Er aß, ging auf die Toilette, dachte daran, wie es wäre, ein Kind in einem Rollstuhl eine steile Straße hinunterrasen zu lassen, und stellte sich unter die Dusche. Warmes Wasser. Das Schwindelgefühle unterdrückende Gesicht von Alicia fiel ihm wieder ein. Seine Erektion sah dumm und unglücklich aus. Er drückte die Eichel an die weißen Fliesen der Dusche, spielte ein wenig mit dem winzigen Fischmaul, zu dem sich die Harnröhrenöffnung formen ließ. Das Kind im Rollstuhl, abwärts rasend, wurde immer schneller und knallte durch eine große Fensterscheibe, die von zwei Stummfilmstatisten in Zeitlupe über die Straße getragen wurde. Glassplitter überall. Der Beutel vom künstlichen Darmausgang des Kindes wirbelte davon und landete auf dem Briefkasten eines Hauses (einem dieser amerikanischen, auf einem langen Stecken, mit einem kleinen roten Fähnchen, das hochgeklappt wird, wenn Briefe gekommen sind).
Er zwang sich dazu, ihren Namen zu denken: Cordula. Er sagte ihn laut, Wasser aus dem Duschkopf lief ihm in den Mund. Er schluckte es, wie zur Strafe. Wofür gibt es mich? Ich stehe in der Dusche. Ich male ein oder zwei Bilder im Jahr.
Er schwankte, als er aus der Dusche stieg und sich abtrocknete.
Sanfte Amoklauffantasien begleiteten ihn im Halbschlaf. Eine Messerstecherei, so weich und federnd wie eine Kissenschlacht. Der Mann ohne Schultern, der ihn im Bankfoyer angesprochen hatte, trat auf ihn zu und überreichte ihm eine neue Visitenkarte. Als Ersatz für die alte, flüsterte er Robert zu, der ihn angewidert mit beiden Händen von sich stieß und sich vom gespannten Drahtseil in die düstere Manege des Schlafs fallen ließ, wo andere Lebewesen schon auf ihn warteten.
5 Die Relokation
der Magda T.
[Grüne Mappe]
Raue, migränegelbe Kopfschmerzen wechselten sich mit Schwindelattacken ab. Aber dabei, sagte ich mir immer wieder, war doch gar niemand in meiner Nähe. Das kühle, mit schleimig weißem Shampoo vermischte Wasser hatte die (nicht fiebrige, sondern mehr atmosphärische) Hitze aus meinem Kopf nicht vertreiben können. Die Symptome wurden auch nicht besser, als ich, nur mit einem Bademantel bekleidet, durch die nächtlichen Korridore des Hotels ging und mich vor dem Snackautomaten aufstellte, um mich in dem eiskalten Licht der Getränkedosen und Schokoriegel ein wenig hin und her zu drehen. Ich kehrte zurück ins Hotelzimmer, legte mich ins Bett und zählte.
Eine Stunde und noch eine Stunde ...
Bei der Rückkehr auf die Weide vergleichen die Schafe die Nummern, die ihnen der schlaflose Mann in seinem Bett heute Nacht zugewiesen hat: Welche Nummer hast du bekommen? – Die Neunzehn, wieder. – Wer ist die Nummer eins? He, Nummer eins! Wir müssen wissen, wer der Anführer ist. Enttäuschte, gramgebeugte Muttertiere, deren Kinder nur eine dreistellige Zahl ergattert haben, wieder nicht bei den ersten Einhundert dabei! Auch still vor sich hin weinende, heute nummernlos gebliebene Schafe sind dabei. Die meisten von ihnen lassen die Köpfe hängen, unzufrieden mit dem Leben. Aber sie gehen trotzdem jeden Abend zu ihm, dem Schlaflosen in seiner abgedunkelten Kammer, der sie zählt, um müde zu werden. Sie brauchen es, genauso wie er es braucht. Im Grunde lieben sie den Moment, da sie die Zahl trifft, mitten in den wolligen Bauch. Es lässt sie für einen Augenblick vergessen, dassihre Anzahl, so wie die Tage und Nächte des Schläfers, endlich
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