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Indigo (German Edition)

Indigo (German Edition)

Titel: Indigo (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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So müsste ein Zahnarztbohrer klingen, dachte Robert, wenn er eine Seele besäße.
    – Okay, sagte der Lehrer, in vollkommen veränderter Stimmlage.
    Auch sein Gesicht sah nicht mehr verwirrt aus.
    – Wie lange sind Sie wieder zurück?, fragte er Robert.
    – Was?
    – Na, wie lange …?
    – Ich weiß nicht, was Sie meinen.
    – Das heißt, Sie sind nicht gerade erst zurückgekehrt von …?
    – Nein.
    – O Gott, sagte der Mann. Oh, was für ein Glück.
    Der Lehrer lachte und schüttelte den Kopf. Er fasste sich mit der Hand an den Mund.
    – Robert Tätzel, sagte er. Ich hätte nicht gedacht, dass Sie … Und Ihre Zone, die ist also tatsächlich …?
    Robert machte eine Tabula-rasa-Geste mit beiden Händen. Der Lehrer nickte. Er griff in seine Hosentasche.
    Robert fürchtete schon, dass er ihm gleich, wie einem Hotelpagen, der einen schweren Koffer in den elften Stock geschleppt hat, einen zerknitterten Geldschein zustecken würde. Aber es war etwas anderes. Langsam und bedächtig legte ihm sein ehemaliger Lehrer eine alte Telefonkarte in die Hand. Auf ihre Rückseite hatte jemand einen kleinen Partyhut gezeichnet.
    Vielen Dank, wollte Robert sagen, und er stellte sich den leicht zerstreuten Ton seiner Stimme dazu vor. Aber er sagte nichts. Die Karte lag auf seiner Handfläche, er nickte und steckte sie ein. Ein unerwartet entspanntes Gefühl breitete sich in ihm aus. Er war plötzlich vollkommen ruhig. So wie damals, als während der Fahrt mit der Straßenbahn sein Blick am Schild der Konditorei hängen geblieben war. Die Zeiger der Welt blieben zwischen zwei Sekunden stehen. Windstille.
    – Ja, also, sagte die Frau.
    – Kannst du ihn hinausbegleiten, Julia?, fragte der Lehrer seine Frau mit leiser Stimme.
    Er schien plötzlich sehr müde. Mit einem übertrieben wirkenden Seufzen ließ er sich in seinen Sessel fallen. Es war eindeutig Schauspielerei, so wie seine Verwirrung von vorhin. Als Robert, enttäuscht über die kurze, unbefriedigende Begegnung, aus dem Zimmer ging, hob der Lehrer kurz die Hand. Er erwiderte die Geste.
    Robert registrierte ein Zittern in den Augen von Setz’ Frau. Nystagmus. Alicia fiel ihm ein, aber das konnte es nicht sein, sie wirkte nicht, als wäre ihr schwindlig. Also fragte er:
    – Entschuldigen Sie die Frage, aber … Was ist mit Ihren Augen?
    – Ach, das weiß niemand so wirklich, sagte die Frau.
    – Und … können Sie mich sehen?
    Sie blickte ihn an, streckte ihren Arm aus, und ihr Zeigefinger deutete mitten in sein Gesicht. Robert wich zurück.
    – Da, sagte die Frau.
    – Was?
    – Da ist Ihre Nase.
    Robert lachte, damit sie ihren Finger wieder wegnahm.
    – Wissen Sie, Sie dürfen ihn nicht aufregen. Sie sollten ihn sehen, wenn er … von früher spricht, von seiner Zeit in diesem schrecklichen Institut … Entschuldigung. Er sammelt diese Berichte über … ach, was weiß ich, über alle möglichen Dinge, Folter, sehr schlimme Dinge sind da dabei. Die kann er nicht einmal mehr ansehen. Packt sie weg in eine Mappe. Aber ich glaube, Ihr Besuch hat ihn gefreut.
    – Ja, ich hatte ihn eigentlich fragen wollen …
    Die Frau hatte sich ein wenig von ihm abgewandt, als wollte sie wieder ins Zimmer zurückgehen. Aber dann streckte sie noch einmal die Hand aus und legte sie auf etwas Unsichtbares unmittelbar vor ihr. Robert atmete so heftig aus, als hätte man ihm von hinten einen heftigen Stoß versetzt. Er bekam eine Gänsehaut.
    – Da, sagte die Frau leise.
    Ihre Hand fuhr die alte Kontur entlang.
    – Blau, sagte sie kopfschüttelnd, als hätte jemand eine dummeBemerkung gemacht. Ich hab nie begriffen, weshalb man immer sagt: blau … indigoblau.
    Robert rührte sich nicht von der Stelle und verfolgte den Weg ihrer Hand. Es war das Angenehmste, was er in letzter Zeit erlebt hatte. Seine Brust schien sich zu weiten, und er bekam doppelt so viel Luft wie sonst. Es plötzlich wieder zu spüren, nach so langer Zeit …
    – Sie können mir vertrauen, sagte er.
    Seine eigene Stimme schien aus einer gedämpften Schallquelle mitten im Raum zu kommen. Die Hand der Frau sank langsam herab. Und dann griff sie sich an den Kopf und massierte sich die Schläfen. Die universelle Migräne-Geste.
    – Es gibt Bücher, sagte die Frau, die mag er nicht einmal mehr berühren. Wenn er sie in ein neues Regal stellen muss, weil das alte voll ist, sieht es aus, als hätte er Rückenschmerzen. Er geht dann wie ein Tyrannosaurus. So nach vorne gebeugt.
    Sie

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