Indische Naechte
Luft ein. Die kraftvolle Kombination aus religiösem Eifer und Haß auf die
Briten würde die Gruppe schnell in einen rasenden, unbeherrschbaren Mob verwandeln. Entschlossen, ihre Furcht nicht zu zeigen, schluckte sie hart und wandte sich an Zafir. »Nimm das Mädchen zu dir auf den Sattel«, sagte sie leise. »Wir müssen sehen, so schnell wie möglich wegzukommen.«
Zafir senkte die Waffe und schnippte mit den Fingern, um die Aufmerksamkeit des Mädchens zu erregen. Als sie sich umdrehte, streckte er ihr die Hand entgegen. Der Anblick seines wilden, bärtigen Gesichts ließ sie zögern, bis er lächelte. »Komm, kleine Taube. Dir geschieht nichts.«
Mit frischem Mut ergriff das Mädchen die Hand des Pathanen, und er zog sie hinter sich auf sein Pferd. Mit einem metallischen Klirren ihres Schmucks ließ sie sich seitlich nieder und schlang ihre zitternden Arme um seine Taille.
Laura hatte Meera beobachtet, wurde jedoch durch einen geknurrten lauten Fluch aus der Menge wieder abgelenkt. »Englische Schweine!«
Das löste eine Reihe ähnlicher Bezeichnungen aus. Plötzlich sah Laura an der Seite des Mobs einen Mann, der einen dicken Stein aufhob und ausholte, um ihn auf Ian zu schleudern. Der Angreifer befand sich auf seiner blinden Seite, und Laura schrie entsetzt auf: »Ian! Vorsicht! Rechts von dir!«
Ian wirbelte herum und sah das Geschoß auf sich zufliegen. Mit unglaublicher Geschwindigkeit riß er seine Pistole aus dem Halfter und feuerte, scheinbar ohne zu zielen. Der Stein zersprang, und die Splitter spritzten in die Menge, aus der augenblicklich Schmerzensschreie erklangen. Die zweite Kugel schlug zwischen den Füßen des Angreifers ein und wirbelte Staub und Kies auf. Der Mann wurde blaß und sprang zurück. Von seiner kriegerischen Laune war nichts mehr zu spüren.
Das Krachen der beiden Schüsse hallte über der Ebene wider, als Ian sich mit einer Hand die Augenklappe abriß und sein blindes Auge zeigte. »Wenn ihr euer Leben schon nicht schätzen könnt, dann sorgt ihr euch vielleicht um eure Seelen!« Langsam ließ er seinen Blick über die Menge schweifen und sah nacheinander jeden Mann an. Danach fuhr er mit einer Stimme, die wie ein Peitschenhieb über die Männer zuckte, fort. »Jeder, der versucht, der Witwe Meera etwas anzutun, wird es eine Ewigkeit bereuen.«
Fast greifbares Entsetzen legte sich über die Gruppe, und alle starrten mit offenem Mund auf Ian, als wäre er der Teufel in Person. Das Schweigen war so vollkommen, daß das Klingeln eines Zaumzeugs laut wie eine Kirchenglocke klang. Laura begriff am Anfang nicht, was das alles zu bedeuten hatte. Doch dann erinnerte sie sich, was Ian ihr erzählt hatte, kurz nachdem sie sich kennengelernt hatten. Für die Abergläubischen bedeutete ein blindes Auge den bösen Blick, der verfluchen konnte. Schon wichen die Männer mit aschfahlen Gesichtern zurück.
»Es wird Zeit, daß wir weiterkommen«, sagte Ian ruhig in Englisch. »Laura, reite links um die Gruppe herum.«
Sie nickte und trieb ihr Pferd den Uferwall hinauf. Zafir, Meera und das Packpferd folgten. Ian schloß sich als letzter an und hielt den Revolver schußbereit, während sie die Gruppe umrundeten und dann in sicherer Entfernung wieder auf die Straße zurückkehrten.
Als sie weit genug fort waren, ordnete Ian an: »Wir reiten noch ein paar Meilen weiter, bis wir ein Lager aufschlagen.«
Sie trieben die Pferde an und ritten in schnellem Galopp. Zafir übernahm die Spitze, wobei das Mädchen wie eine Puppe an ihm hing. Ian lenkte sein Pferd neben Laura. »Wie geht es dir?«
Laura war nicht überrascht zu sehen, daß er seine Augenklappe wieder angelegt hatte und nun gelassen dahinritt, als würden sie eine englische Wiese überqueren. »Langsam kommt die Reaktion, und ich könnte auf der Stelle auseinanderbrechen, aber sonst geht es mir gut«, antwortete sie mit einer Stimme, die weniger fest war, als es ihr lieb war. »Glaubst du, sie werden uns verfolgen?«
»Höchst unwahrscheinlich. Ich habe immer den Verdacht gehabt, daß der Brauch der Sati bloß dazu dient, überflüssige Frauen loszuwerden«, erwiderte er zynisch. »Da die Familie diese hier nun wirklich los ist, gibt es keinen echten Grund, uns zu jagen — schon gar nicht, da sie befürchten müssen, verdammt zu werden!«
»Das war ein guter Trick«, sagte sie bewundernd. »Aber hast du denn nicht wenigstens ein bißchen Angst gehabt?«
Er zuckte die Schultern. »Keiner von ihnen hatte eine Waffe, insofern
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