Indische Naechte
Moment, »Ein Begräbnis. Nach dem Lärm, den die Leute machen, handelt es sich um einen wichtigen Mann. Da ist ein Fluß zu unserer Rechten, wahrscheinlich bringen sie die Leiche dorthin.«
»Ruhe in Frieden«, murmelte Laura.
Während sie noch überlegte, wie sie die Unterhaltung weiterführen konnte, die die längste seit Tagen war, sagte Ian: »Wo wir gerade bei Scheiterhaufen sind: Wußtest du, daß Pjotr Moskau niedergebrannt hat?«
»Was?« fragte Laura ungläubig.
»Es ist wahr. Du kennst doch bestimmt die Geschichte von der Evakuierung Moskaus, bevor Napoleon und seine Männer es besetzen konnten?«
»Natürlich. Jedes russische Schulkind weiß, daß die Bewohner und die Armee sich vor Bonaparte zurückzogen. In der gleichen Nacht, als die Franzosen die Stadt besetzten, brach ein gewaltiges Feuer aus. Aber ich habe noch nie davon gehört, daß es absichtlich gelegt worden ist.«
»Ich nehme an, daß Moskaus Regierung wenig dar-
an gelegen ist, die Welt wissen zu lassen, daß sie die Vernichtung der größten russischen Stadt angeordnet hat«, erklärte Ian trocken. »Pjotr war einer der Handvoll junger Offiziere, die sich versteckten und auf die Fremden warteten. Er erzählte mir, die verlassene Stadt hätte eine unheimliche Atmosphäre gehabt. Nachdem die Franzosen die Stadt in Besitz genommen hatten, setzten die Männer Moskau in Brand. Sie rannten mit Fackeln durch die Straßen, und da es sich zum größten Teil um Holzhäuser handelte, ging praktisch die ganze Stadt, bis auf den Kreml, in Flammen auf.«
»Das wußte ich nicht«, sagte Laura leise. »Es muß ziemlich schrecklich sein, seine eigene Stadt zu zerstören.«
»Ja. Pjotr sagte, es war, als würde er dem Feuerbegräbnis einer ganzen Nation Zusehen. Doch danach hat sich Mütterchen Rußland wie ein Phönix aus der Asche erhoben.« Ians Blick war respektvoll. »Du entstammst einem resoluten Volk, Larischka. Durch den Mut, alles zu zerstören, was dem Feind helfen konnte, hat Rußland den größten Eroberer Europas aller Zeiten niedergezwungen. Britannien hat dazu beigetragen, Napoleon den Gnadenstoß zu versetzen, aber es waren der russische Feldzug und der Winter des Landes, der Napoleon wirklich besiegt hat.«
»Ich bin ein bißchen neidisch, daß du Pjotr so viel besser gekannt hast als ich«, gab sie zu.
»Ein Gefängnis ist ein phantastischer Ort, sich tiefer auszutauschen«, erwiderte Ian. »Es ist erstaunlich, an welche Einzelheiten man sich erinnert, wenn es sonst nichts zu tun gibt.«
Dann zog er sich wieder von ihr zurück, doch die Unterhaltung hatte Lauras Laune verbessert. Ja, es würden wieder glücklichere Tage kommen — und glücklichere Nächte.
Nachdem Meera ihren Platz eingenommen hatte, stieß Dhamo die Fackel in das Holz. Ein Rauchfetzen stieg langsam in die Luft. Dann entzündete sich die Baumwolle in knisternden Funken und plötzlich aufwallender Hitze. Meeras Stiefsohn umkreiste nun den Scheiterhaufen und stieß die Fackel immer wieder hinein. Rauchwolken stiegen in die Luft, die nach brennendem Sandelholz dufteten.
Meeras dumpfe Resignation dauerte nur, bis die erste gelbe Flamme emporschoß. Der Saum ihres Saris fing an zu glimmen, und ein Schmerz durchfuhr ihren Unterschenkel und zerriß ihren tranceartigen Zustand. Sie schrie auf und riß ihr Bein aus der Hitze. Unfähig, passiv auf den Tod zu warten, ließ sie sich in panischer Angst über den Rand des Scheiterhaufens rollen, während sie erwartete, daß mitleidlose Hände sie in die Feuerhölle zurückwerfen würden.
Doch der wabernde Rauch verschaffte ihr eine unerwartete Deckung. Als ihre Füße den Boden spürten, schoß sie instinktiv auf eine Lücke in der Menschenmasse zu, die den Holzstoß umstand. Während sie durch den beißenden Qualm taumelte, stieß sie mit einem Mann zusammen, der einen Fluch murmelte. Eine Frau zischte ihr etwas zu, jemand packte ihr Handgelenk, doch sie riß sich los.
Wunder über Wunder — sie schaffte es, den Ring der Zuschauer zu durchbrechen, bevor irgend jemand bemerkte, wer sie war. Sie stürzte bereits auf eine Gruppe Bäume zu, als hinter ihr die ersten wütenden Rufe ertönten. Sie warf einen raschen Blick zurück und entdeckte, daß die Männer ihre ungläubi-ge Erstarrung überwunden hatten und zur Verfolgung ansetzten. Aber sie hatte als Kind immer mit ihren Brüdern gespielt und konnte schnell rennen. Bald würde es dunkel werden. Wenn sie sich bis dahin verbergen konnte, würde sie vielleicht wirklich
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