Indische Naechte
tückisch sie waren. Als die demoralisierte Truppe die Bergpässe erreicht hatte, war sie so gut wie verloren. Die Afghanen hatten nur zu warten brauchen.
Laut Nachricht war ein einziger Offizier, ein Sanitäter namens Brydon, bis zum britischen Fort in Jallalabad durchgekommen, um von dem Massaker zu berichten. Ian blickte auf das Datum und stellte fest, daß der einzige Überlebende erst vor zwei Tagen in seine Rettung getaumelt war. Die Quelle des Maharadjas war in der Tat exzellent — wahrscheinlich war Ian der erste Brite in Indien, der das Privileg hatte, die Hiobsbotschaft zu vernehmen.
»Tut mir leid, Falkirk«, sagte Rajiv Singh. »Hatten Sie Freunde in der Garnison von Kabul?« Auch wenn das Mitgefühl echt war, spürte Ian seine unterdrückte Erregung.
Bemüht, den Schmerz aus seiner Stimme zu halten, sagte Ian gepreßt: »Ja, ich hatte Freunde dort. Ich wünsche zu Gott, daß einer von ihnen genug Menschenverstand gehabt hätte, Elphinstone zu erschießen. Das hätte niemals geschehen dürfen! Niemals!«
»Obwohl nur ein Mann Jallalabad erreicht hat, werden wahrscheinlich noch mehr Überlebende auftauchen«, gab der Rajpute zurück. »Einige der Inder sind bestimmt zu den Bergbewohnern geflüchtet, um sich dort zu verstecken, und die Afghanen werden Gefangene gemacht haben.«
»Ich hoffe es. Aber ein paar weitere Überlebende ändern nichts an der Tatsache, daß dies die größte Katastrophe ist, die je eine britische Armee heimgesucht hat. Es hätte nicht geschehen müssen!« Ians Lippen verzogen sich bitter. »Vielleicht ist das meinen Landsleuten eine Lehre, was ihre Arroganz angeht. Es war eine unglaubliche Dummheit, einen fähigen Führer wie Dost Mohammad vom Thron zu stürzen, nur weil er Russen an seinem Hof empfangen hat. Wie ich lese, war es sein Sohn Akbar, der die Männer angeführt hat, die die Briten vertrieben. Darin liegt eine Art Gerechtigkeit.«
»Sie sind bewundernswert objektiv, was die Fehler Ihrer Nation angeht.« Der Rajpute blickte auf die Nashörner hinab. Eines hievte sich aus dem Schlammloch und begann sich so heftig an einem Baum zu reiben, daß die dicken Äste zitterten. »Die Briten sind wie dieses Nashorn nach Afghanistan einmarschiert: schwerfällig und dumm. Sie waren in der Lage, das Land kurzfristig zu erschüttern, aber sie haben vergessen, daß jeder zornige Tiger sogar ein Rhinozeros reißen kann.«
Ian gab dem Maharadja die Botschaft zurück. »Ihr bereut dies nicht, richtig?«
»Es ist eine Schande, wenn tapfere Männer wegen eines unfähigen Anführers sterben müssen, aber abgesehen davon tut es mir nicht leid.« Der Rajpute setzte sich in Bewegung und bedeutete Ian, ihm den Pfad entlang zu folgen. »Ich war Verbündeter der Briten, weil es günstiger ist und weil es Einzelpersonen wie Sie und Ihre reizende Frau gibt, die ich mag und respektiere. Aber ich liebe die Eroberer meines Landes nicht, und ich werde nicht weinen, wenn sie die Früchte ihrer Arroganz ernten.«
Offenbar war die Zeit der Aufrichtigkeit gekommen. Einige Minuten gingen sie schweigend nebeneinander her. Dann unterbrach der Maharadja abrupt die Stille. »Man munkelt, daß der Sirkar in Zukunft alle unabhängigen Staaten annektieren wird, deren Herrscher stirbt, ohne einen Erben seines Blutes hinterlassen zu haben.« Rajiv Singh warf seinem Begleiter einen harten Blick zu. »Ich habe keinen solchen Erben. Und wenn ich nach dem Brauch meines Volkes einen adoptiere, wird mir der Sirkar dann Dharjistan abnehmen, wenn ich sterbe? Und wenn dies geschieht, ist das eure britische Gerechtigkeit?«
Die Intensität von Rajiv Singhs Worten traf Ian. »Ich wußte nicht, daß so ein Verfahren in Erwägung gezogen wird.« Er verzog sein Gesicht. »Wenn es aber in Kraft tritt, dann würde ich das nicht mehr Gerechtigkeit nennen.«
»Ich auch nicht.«
Der Pfad machte eine Biegung und führte auf ein gewaltiges Gehege zu, in dem sich einige weiße Tiger befanden. Das Gebiet schloß Bäume, Gras und ein Wasserloch ein. Ein Graben umgab das Gehege, und ein hoher Zaun am Außenrand verhinderte, daß die Tiere entkommen konnten. Ian hatte schon von weißen Tigern gehört, aber noch nie einen gesehen. Sie sahen wunderschön aus, aber ein wenig irreal, als wären sie fleischgewordene Geister ihrer goldenen Vettern. Im Versuch, die Spannung zu mildern, bemerkte Ian: »Herrliche Kreaturen. Sie scheinen sich gut in ihr Los zu finden.«
»Sie würden lieber frei sein«, erwiderte Rajiv Singh. »So wie
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