Indische Naechte
Abkürzungen zu lesen, dann hätte sie das Notierte vermutlich gar nicht entziffern können. Offenbar hatte er diese Zeilen einfach für sich hingekritzelt, als er seinen Plan ausarbeitete. Vielleicht hatte er vorgehabt, den Zettel zu vernichten, ihn dann aber gedankenverloren zwischen die anderen Papiere gestopft. Wie auch immer... Während sie las, wurden ihre Lippen zu einem farblosen Strich: Sie hielt in ihren Händen den Plan ihres Onkels, um die Briten aus Indien zu vertreiben.
Nachdem sie die königliche Menagerie besichtigt hatten, sagte Rajiv Singh: »Möglicherweise werde ich keine Zeit mehr haben, Sie zu sehen, bevor Sie uns verlassen, Falkirk, also will ich Ihnen jetzt Lebewohl sagen. Ich wünsche Ihnen und Ihrer Frau eine sichere Heimfahrt.« Und als besondere Höflichkeit bot er ihm die Hand, wie es sonst nur Europäer taten.
Ian schüttelte sie fest und erbot ihm dann das >Namaste<, das sowohl Gruß als auch Lebewohl war. »Die werden wir sicher haben. Ich danke Euch sehr für Eure Gastfreundschaft.«
Dann trennten sie sich. Der Maharadja kehrte in seinen Audienzsaal zurück, Ian in ihre Räume. Immer wieder wanderten seine Gedanken zu dem Massaker in Afghanistan. Er konnte nicht anders, als an seine Bekannten und Freunde zu denken, die sehr wahrscheinlich tot waren. An einem Punkt auf der Strecke von Kabul nach Jallalabad führte der Pfad durch eine Schlucht, die weniger als zwanzig Fuß breit war. Wenn Schützen auf den Bergkämmen gelauert hatten, war sie ein Schlachthaus geworden. Wie viele waren gestorben? Wie viele Frauen und Kinder als Sklaven genommen worden? Sein Inneres zog sich vor Trauer und dem Empfinden einer irrationalen Schuld zusammen, weil er in gemütlicher Sicherheit gesessen war, während Freunde von ihm nur ein paar hundert Meilen entfernt umgekommen waren.
Ian wollte nichts weiter, als zu Laura und ihrem warmen Trost zurückkehren. Doch sobald er ihr Wohnzimmer betrat und sie ansah, wußte er, daß etwas geschehen war.
»Ich hab es gefunden, Ian«, sagte sie leise, fast flüsternd auf englisch. »Und es ist schlimmer — viel schlimmer, als wir befürchtet haben.«
Er hielt den Atem an. »Hast du eine Übersetzung gemacht?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich hielt es für besser, nicht in einer Sprache zu schreiben, die hier jemand vielleicht verstehen könnte.«
»Vernünftig.« Er hob die Stimme und sagte: »Sollen wir wieder ins Bett gehen? In den zwei Stunden, in denen ich nicht bei dir war, hast du mir furchtbar gefehlt!«
Sie lächelte, aber ihre Augen blieben ernst. Sie gingen zusammen in ihr Schlafzimmer, das bereits in Ordnung gebracht worden war. Kein einziges Rosenblatt lag mehr herum, doch der Duft hing noch in der Luft.
Ian setzte sich auf das Sofa und zog seine Frau neben sich. »Zufällig hast du mir wirklich gefehlt.« Er küßte sie, und fast war alles andere vergessen. Doch dann machte er sich höchst widerwillig von ihr los und legte ihr einen Arm um die Schultern. »Was hast du gefunden?«
Sie faltete ein Blatt auf, das mit chaotischen kyrillischen Buchstaben übersät war. »Die Essenz ist, daß Pjotr eine Koalition von Armeen organisiert hat, die den Sirkar angreifen, wenn die Zeit reif ist, was er als Verbindung zweier Dinge definiert. Erstens muß es stattfinden, wenn Ranjit Singh gestorben ist, denn er hat den Punjab zusammengehalten und war unser bester Verbündeter im Norden. Zweitens müßte der Sirkar durch etwas geschwächt werden, wie Kämpfe im Osten oder Süden Indiens oder einen europäischen Krieg, wodurch Truppen von hier abgezogen werden müßten.«
Ian sog scharf die Luft ein. »Die erste Voraussetzung trat ein, als Ranjit Singh vor zwei Jahren starb, die zweite ist vor zwei Tagen erfüllt worden.« Als Laura ihn fragend anblickte, sagte er: »Ich erklär’s dir, wenn du fertig bist. Fahr fort.«
»Pjotr hat Monate damit verbracht, mit den Anführern im Punjab und Afghanistan zu reden«, sagte sie. »Er fand eine Menge von ihnen, die erfreut schienen, an einem heiligen Krieg, einem Jihad, teilnehmen zu können, um die Briten zu vertreiben. Er hat auch mit einigen Fürsten in Zentralindien gesprochen, die sich ebenfalls erheben würden, wenn sie eine Chance sähen, daß der Sirkar überwältigt werden könnte.«
Ian runzelte die Stirn. »Wenn all diese Gruppen zusammen kämpfen, würden sie eine ernsthafte Gefahr darstellen.«
»Genau, wie Pjotr es sich vorgestellt hatte«, stimmte sie zu. »Und der Schlüssel zu diesem Plan ist
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