Indische Naechte
er konnte sie nicht mehr abwehren. Aber nein, das Geräusch kam von vorne, nicht von hinten. Er lauschte angestrengt. Die steinernen Mau-ern verzerrten die Geräusche und machten es schwer, die Anzahl der Pferde zu schätzen, aber dann entschied er, daß es nur ein einzelner Reiter sein konnte. Allah hatte ihn also doch noch nicht aufgegeben, denn bald würde er Nahrung und Wasser und ein Transportmittel haben.
Daß der herannahende Reiter ein Freund sein könnte, kam ihm gar nicht in den Sinn, nachdem sich in den letzten Tagen jede menschliche Hand gegen ihn erhoben hatte. Er ging vorsichtig ein Stück zurück, bis er an eine etwas breitere Stelle kam, an der eine schroffe Felsnase etwa auf Mannshöhe aus dem Berg ragte. Langsam und unter stechenden Schmerzen in seiner Schulter kroch er auf den Felsen hinauf und duckte sich, so daß er nicht mehr zu sehen war.
Er zog sein Messer und wartete.
Der Führer hatte nicht übertrieben, als er den Paß einen Murmeltierpfad genannt hatte. Er war nicht mehr als ein steiler, gewundener Strich, der sich durch felsige Berge zog. Manchmal war er gerade so breit, daß zwei Menschen nebeneinander reiten konnten, meistens jedoch schmaler. Das Stück, auf dem sie sich gerade vorantasteten, führte an einer Felswand entlang und fiel gefährlich steil auf der anderen Seite in die Tiefe. Weit unter ihnen sprudelte ein schäumender, reißender Bach. Und so, wie der Wind durch die Felsen jagte, konnte man nur dankbar sein, daß man nicht in einen Sturm geriet, denn es war ganz bestimmt nicht abwegig, dann von der Klippe geweht zu werden. Laura konzentrierte sich die meiste Zeit auf den Weg direkt vor ihr, obwohl ihr trittsicheres Pferd gute Arbeit leistete.
Aber es waren nicht nur die offensichtlichen Ge-fahren, die den Paß so beunruhigend machten. Er kam ihr vor wie ein verfluchter Ort. Laura hielt ihre Flinte schußbereit in der Hand, obwohl sie bezweifelte, gegen Geister eine Chance zu haben.
Sie schaute auf, um einen Blick auf Ian zu werfen. Wenn ihr Mann sich unbehaglich fühlte, dann zeigte er es nicht. Er ritt etwa sechzig Fuß vor ihr her und wirkte so gelassen, als stellte er in einem Park in London seinen neuen Wallach zur Schau. Sie hoffte, daß er bald genug gesehen hatte, um wieder umkehren zu wollen. Sie hatte absolut kein Bedürfnis danach, die Nacht hier oben zu verbringen.
Laura wollte ihren Blick gerade wieder abwenden, als sich auf dem Felsen, an dem Ian gerade vorbeiritt, ein dunkler Schatten erhob. Entsetzt erkannte sie einen Mann, in dessen Hand eine Klinge aufblitzte — und zwar auf Ians blinder Seite. »Ian — über dir!« schrie sie.
Zwei Monate zuvor wäre Schreien das einzige gewesen, was sie hätte tun können, doch nun beschränkte sich ihre Erziehung nicht länger auf die einer behüteten jungen Engländerin. Als der Angreifer sich auf Ian stürzte, legte sie das Gewehr an und schoß.
Der Mann schrie auf und versuchte, mitten im Sprung die Richtung zu ändern. Sein Messer wirbelte durch die Luft und in die Schlucht hinunter. Alarmiert von Lauras Ruf griff Ian nach seinem Revolver, doch im gleichen Moment wieherte sein Pferd vor Angst und stieg. Die folgenden Sekunden kämpfte Ian damit, sein Pferd wieder unter Kontrolle zu zwingen, und nur hervorragende Reitkunst verhinderte, daß Tier und Mensch in den Abgrund stürzten.
Als Laura feuerte, scheute ihr Pferd, geriet aber
Gott sei Dank nicht in Panik. Da sie zu Fuß beweglicher war, sprang sie vom Pferderücken und rannte über den steinigen Pfad auf Ian zu. Die Attacke war zu schnell gekommen, als daß sie hätte Angst empfinden können.
Ian war bereits abgestiegen und sprach beruhigend auf sein Pferd ein, als sie endlich bei ihm war. Der Angreifer, ein Pathane, lag auf dem Rücken auf dem Pfad. Vor einem Augenblick war er noch die Verkörperung des Bösen gewesen, aber jetzt war er nur noch ein lebloser, armseliger Körper. Laura mußte sich an die Felswand stützen, denn plötzlich gaben ihre Knie nach, und sie konnte kaum noch stehen. »Hab ich... hab ich ihn umgebracht?«
»Nicht, wenn er nicht durch den Sturz gestorben ist.« Ian suchte den Pfad und die Umgebung ab. »Der Kerl scheint allein gewesen zu sein. Wenn nicht, wären die anderen schon über uns hergefallen.«
Seine Worte erinnerten Laura daran, daß ihre Flinte leer war, und sie lud sie mit klammen Fingern nach. Als sie fertig war, legte ihr Ian den Arm um die Schulter und zog sie an sich. »Hervorragender Schuß. Du hast ihm
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