Indische Naechte
sich stets geweigert, darüber nachzudenken, was geschehen würde, wenn ihr Stiefvater einmal starb; in Indien, wo rasche und tödliche Krankheiten normal waren, hätte sie ebensogut vor ihm sterben können. Doch nun war er fort, und ihr Leben würde sich von Grund auf ändern. Sie hatte nicht nur ihre Familie verloren, sondern auch ihr Zuhause und ihre finanzielle Sicherheit. Am liebsten hätte sie sich auf den Boden fallen lassen und wie ein Kind geschrien und geweint.
Als auch das zweite Feuer brannte und die Diener sich wieder niederließen, sprach Laura die drei Stallburschen an. »Kommt, wir müssen die Tiere näher heranholen. Sie sind in größerer Gefahr als wir.«
Die drei tauschten unbehagliche Blicke aus. »Keine Sorge. Ich gehe voran.« Laura versuchte, gelassen und zuversichtlich zu klingen. »Padam, du bleibst mit der Pistole hier. Mahendar, hol das Gewehr und komm mit.«
Laura entsicherte das Gewehr und ging dann voran durch die Ansammlung der Zelte. Hinter ihr trug der jüngste Stallbursche eine Fackel. Ihre Schatten tanzten wild, als sie an den Rand der Lichtung kamen, wo die Pferde und die Ochsen angebunden waren. Die Tiere waren nervös, und die Männer hatten alle Hände voll zu tun, sie zu beruhigen, damit sie zu einem sicheren Platz näher an den Feuern geführt werden konnten.
Laura nahm das Gewehr von Mahendar, damit er den anderen helfen konnte. Dann nahm sie eine Position zwischen den Tieren und dem Waldrand ein und wartete mit der Flinte in der Hand und dem Gewehr zu ihren Füßen. Wieder rief sie sich in Erinnerung, daß das Tier kaum ein Lager angreifen würde, doch so nah am Wald war es nicht einfach, die Ruhe zu bewahren.
Die tropische Nacht war voller Leben, geheimnisvoll und gefährlich. Sich leicht bewegende Schatten wirkten wie geduckte Raubtiere, die verschwanden, sobald sie sie direkt ansah. In der Ferne heulten Schakale, und einmal war das typische Husten eines Panthers aus alarmierender Nähe zu hören. Sie zuckte zusammen und packte ihre Flinte fester, aber nichts war in den täuschenden Schatten auszumachen. Laura wischte sich die verschwitzten Handflächen an ihrem Rock ab, hob den Lauf ihrer Waffe wieder und richtete ihn auf den dunklen Wald.
Als das Unheil kam, geschah es schnell und unvermittelt. Eine Raubkatze brüllte zweimal und so nah, daß Laura fast schon erwartete, zu spüren, wie die Klauen ihre Haut zerfetzten. Ein schrilles Wiehern erklang hinter ihr, und sie warf einen Blick zurück. Ein Pony stieg und entriß einem Stalljungen, der versuchte, es zu beruhigen, die Zügel. Mit rol-lenden Augen bockte und stieg das Pferd erneut und löste damit verschrecktes Bellen, Blöken und Wiehern der anderen Tiere aus. Der jüngste Stallbursche brüllte: »Der Tiger kommt!« und wies auf den Wald hinter Laura.
Als Laura herumwirbelte, hörte sie das Rascheln im Dickicht. In plötzlicher Panik feuerte sie in die Richtung, aus der das Geräusch kam, einen Lauf der Flinte ab. Doch sie hatte vergessen, sich gegen den Rückstoß zu wappnen, und die Waffe schlug hoch, als der Schaft schmerzhaft gegen ihre Schulter stieß. Beißender Rauch brannte in ihren Augen, und ihre Ohren klingelten von dem Schuß, doch sie packte die Flinte erneut und feuerte die zweite Ladung ab, wobei sie diesmal tiefer zielte.
Überzeugt, daß ein rasender Tiger gleich aus dem Wald brechen würde, ließ sie dann die Flinte fallen und griff nach dem Gewehr zu ihren Füßen. Die Waffe hatte die Kraft, einen Elefanten zu fällen. Und als ihr Finger sich um den Hahn krümmte, hoffte sie nur, daß ihre Treffsicherheit ausreichte, um den Tiger zu erlegen.
Die Gefangenschaft hatte Ians Sinne geschärft, und er roch und hörte das Camp, lange bevor er es sah. Doch als er nun nahe genug heran war, um die einzelnen Laute und Gerüche identifizieren zu können, brachte er sein Pferd zum Stehen.
Irgend etwas stimmte nicht. Es war nach Mitternacht, und im Lager hätte es still sein sollen, doch statt dessen schien alles hellwach zu sein. Beunruhigender noch, er nahm den schwachen Hauch von Furcht wahr — ein Geruch, so unverwechselbar wie undefinierbar.
Ian runzelte die Stirn. Dies war ein sicherer, befriedeter Teil Indiens, und es war nicht wahrscheinlich, daß Überfälle zu befürchten waren. Dennoch war er zu lange Soldat gewesen, um sich kopfüber in eine unbekannte Situation zu stürzen. Er stieg also ab, führte sein Pferd vom Pfad herunter und bewegte sich leise über die dichte
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