Indische Naechte
Hindernisse mühte, die sich zwischen sie schoben.
Dann plötzlich, mit wundersamer Unmittelbarkeit, rannte sie gegen die kräftige Gestalt ihres Stiefvaters. Seine Arme schlangen sich um sie, und sie war endlich in Sicherheit. Vor Freude weinend klammerte sie sich an ihn. »Papa«, flüsterte sie und verkroch sich in seine Arme. »Papa, ich hatte einen schrecklichen Alptraum. Ich hab geträumt, daß du gestorben bist!«
Eine tiefe, unbekannte Stimme drang durch die Nebel, die sie umgaben. »Miss Stephenson... Laura! Wachen Sie auf!«
Benommen hob sie den Kopf und stellte fest, daß es nicht ihr Stiefvater war, der sie festhielt, sondern ein Fremder — ein schlanker, großer Mann mit hartem Gesicht und einer Klappe über einem Auge. Sie hätte sich gefürchtet, wenn da nicht die Freundlichkeit in seiner Stimme gewesen wäre. »Sie sind schlafgewandelt«, sagte er weich. »Sind Sie jetzt wach?«
Unsicher machte sie sich aus den Armen des Fremden los und blickte sich um. Das Hindernis, gegen das sie im Traum gekämpft hatte, war offenbar ihre Zeltklappe gewesen, denn sie befand sich nun draußen und stand barfuß nur ein paar Schritte von dem kleineren Feuer entfernt. Beim größeren Feuer sah sie die schlafenden Gestalten der Diener, zwischen denen dösend Ochsen und Pferde standen.
Stück für Stück kehrte ihre Erinnerung an die vergangenen Stunden wieder, an den Tod ihres Vaters bis zur Ankunft dieses Fremden, den sie fast erschossen hätte. Cameron hieß er, hatte er gesagt. Ian Cameron. Ihr Blick kehrte zu seinen harten Zügen zurück. »Also war es kein Alptraum — mein Vater ist wirklich tot.«
»Ich fürchte ja. Kommen Sie und trinken Sie einen Tee. Ich habe gerade noch eine Kanne voll aufgebrüht.« Er führte Laura zu einer gefalteten Decke, die er ans Feuer gelegt hatte. Nachdem sie sich gesetzt hatte, schenkte er einen Becher ein, gab viel Zucker hinein und drückte ihn ihr in die Hand. Sie trank automatisch und bemerkte kaum die Hitze des Getränks. Im Osten war ein rosiger Schimmer am Horizont zu sehen. Bald würde diese furchtbare Nacht ein Ende haben.
Als sie den Becher geleert hatte, war ihre Benommenheit endlich verschwunden. Ihr schoß durch den Kopf, daß sie eigentlich hätte peinlich berührt sein müssen: Sie saß nur mit einem leichten Nachthemd bekleidet mit gekreuzten Beinen vor einem fremden Mann. Doch sie fühlte sich keinesfalls verlegen, vielleicht weil dieser Ian Cameron die Situation so unbekümmert hinnahm. Sie hielt ihm den Becher entgegen. »Tut mir leid, daß ich mich so unmöglich benommen habe.«
Er beugte sich vor und schenkte ihr Tee nach. »Ich finde, daß Sie sich bemerkenswert gut halten. Die meisten Frauen hätten in solchen Situationen heftige hysterische Anfälle.«
Als sie wieder an ihrem Tee nippte, musterte sie ihr Gegenüber. Ein paar Stunden zuvor, als er aus dem Unterholz brach und sie überwältigt hatte, hatte sie ihn erschreckend gefunden, und auch jetzt noch verlieh ihm die Augenklappe das verwegene Aussehen eines Piraten. Doch sein Gesicht war fein geschnitten, und im Feuerschein leuchtete sein Haar kastanienbraun — eine erstaunlich warme Farbe für jemanden, der die wachsame, geschärfte Wahrnehmung eines Raubvogels zu besitzen schien. Dann sah sie das Gewehr, das neben ihm lag. »Sind Sie die ganze Nacht aufgeblieben, um das Camp zu bewachen?«
Er nickte. »Ich glaube zwar nicht, daß es nötig war, aber ich denke, die Leute haben ruhiger geschlafen.«
Laura fand, daß er sich wie ein Soldat benahm. »Sind Sie in der Armee?«
Er warf ihr einen scharfen, kurzen Blick zu. »Ich war Major im 46. Eingeborenen-Infanterieregiment.«
Sein Gesichtsausdruck ermutigte nicht zu weiteren Fragen, also wandte sie sich wieder ihrem Teebecher zu. Er mochte durchaus seinen Dienst quittiert haben, aber sie begann, ihn im Geiste als Major Cameron zu betiteln. Mr. Cameron allein schien zu schwach für diesen Mann.
Inzwischen war es hell genug, um Farben zu erkennen, und der Wald verwandelte sich in einen Schauplatz wettstreitender Vogelchöre. Die Diener an dem anderen Feuer begannen sich zu regen, und bald war die Lichtung vom Duft frischer Chapatis erfüllt, einem ungesäuerten Brot, das in kleinen Fladen auf einem Blech über dem Feuer gebacken wurde.
Ian nutzte es aus, daß Laura davon abgelenkt war, um ihre Erscheinung genauer zu betrachten, denn in der Nacht war er nicht in der Lage gewesen, viel zu erkennen, außer, daß sie ein wenig
Weitere Kostenlose Bücher