Indische Naechte
Attacke hatten.
Als sie ihr eigenes Zelt betrat, um zu baden und sich umzuziehen, hörte sie im Wald eine große Katze brüllen. War es ein Tiger oder ein Löwe? Ein Löwe, entschied sie.
Die Raubkatze brüllte wieder, und Laura erschauderte und empfand das vage Gefühl einer Vorahnung. In Indien war die Gefahr nie weit, und sie spürte, daß sie in dieser Nacht näherkam. Entschieden schüttelte sie dieses unangenehme Gefühl ab. Diese Nacht war nur eine Nacht wie alle anderen.
Laura hatte sich umgezogen und wollte sich soeben von ihrer Zofe das Haar aufstecken lassen, als Padam, der Bursche ihres Stiefvaters, nach ihr rief. Seine Stimme, die durch die Zeltwand drang, klang erregt. »Miss Laura, kommen Sie schnell. Stephenson Sahib ist krank.«
Die dumpfe Vorahnung kehrte zurück. Ohne sich noch um ihr offenes Haar zu kümmern, rannte Laura an ihrer Zofe vorbei und hinaus aus dem Zelt. Die Sonne war untergegangen, und es war stockdunkel, als sie dicht gefolgt von Padam über die Lichtung lief.
Im Zelt brannte eine Lampe und verbreitete ein weiches Licht, doch sobald Laura eintrat, traf sie der strenge Geruch von Siechtum wie ein Hammerschlag. Ihr Stiefvater lag ausgestreckt auf dem Bett, und Laura konnte sogar durch das Moskitonetz die grauweiße Farbe seines Gesichts erkennen. Sein Atem ging schnell und flach.
Lauras Herz schlug schneller vor Angst. In Indien gab es Krankheiten, die innerhalb weniger Stunden töten konnten. Man konnte mittags mit jemanden essen und später erfahren, derselbe sei vor dem Abendessen gestorben. Um Beherrschung kämpfend, trat sie rasch an das Bett ihres Vaters. Sie legte ihm eine Hand auf die Stirn, und er öffnete flatternd seine Lider. Er brauchte einen Augenblick, bis seine Augen sie wirklich sahen, doch dann murmelte er mit erschreckender Ruhe: »Du mußt jetzt stark sein, Laura. Meine Zeit... ist gekommen.«
»Papa, nein!« schrie sie und verfiel unbewußt in ihre Anrede der Kindheit. Alarmiert durch die eigene Hysterie, die sie aus ihrer Stimme hörte, schob sie das Moskitonetz zur Seite, kauerte sich auf den Rand des Bettes und packte sein Handgelenk. Sein Puls ging schnell und schwach, so fragil wie der eines kleinen Vogels.
Er brachte ein kleines Lächeln zustande. »Sei bitte nicht... nicht zu traurig, versuch es. Ich hab immer gesagt... ich will in Indien sterben...«
Sie nahm alle Kraft zusammen. »Du wirst eines Tages hier sterben, ja, aber jetzt noch nicht!«
Sein leichtes Beben der Hand zeigte ihr, wie unrecht sie hatte. »Ich glaube, ich habe... Cholera, meine Liebe. Denk daran... du hast versprochen... nicht einsam zu bleiben. Und trauere nicht zu lange.« Wieder schlossen sich seine Augen.
Cholera war eine vernichtende, unwürdige Krankheit, und die Art, die Kenneth sich zugezogen hatte, schritt mit unglaublicher Geschwindigkeit voran. Das einzige, was Laura tun konnte, war, ihm Laudanum gegen die Schmerzen zu geben, und mit Flüssigkeit dem Austrocknen des Körpers durch Erbrechen und Durchfall entgegenzuwirken. Padam und der Kammerdiener ihres Stiefvaters, Mahendar, halfen so gut es ging, doch ihre bedrückten Gesichter zeigten ihr, daß die beiden ihren Herrn schon aufgegeben hatten.
Trotz Lauras wütenden Versuchen, ihren Vater durch reine Willenskraft am Leben zu erhalten, siechte er in kurzer Zeit unvermeidlich dahin. Ihr Zeitempfinden verschob sich auf seltsame Art: Einerseits dehnten sich die Minuten mit quälender Langsamkeit, andererseits rasten sie wie Sand durch ein Stundenglas.
Kenneth sprach nur noch ein einziges Mal. Während seine Stieftochter gerade seine Stirn mit einem Schwamm abtupfte, flüsterte er: »Laura.«
»Ja, Papa?« Sie beugte sich dicht über ihn, um ihn verstehen zu können.
Ihr offenes Haar fiel über sein Handgelenk, und er berührte die hellen Locken mit zitternden Fingern. »Du und Tatjana... ihr wart das Beste, was mir je passiert ist.« Er holte mühsam Atem, dann erhellte sich seine Miene, und die Züge der Qual verschwanden. Noch einmal formten seine Lippen die Silben »Tatjana« wie zu einem Gruß, dann schlossen sich seine Augen.
Laura sank neben der Liege auf die Knie und umklammerte seine Hand. Dann weinte sie mit gesenktem Kopf um den Mann, der ihr liebender Vater, ihr freundlicher Lehrmeister und ein geliebter Freund gewesen war.
Als sie den Kopf wieder hob, war er tot.
Es war fast Mitternacht, als Ian endlich Nanda erreichte. Dort gab man ihm Auskunft, und ein Junge führte ihn zu Kenneth Stephensons
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