Indische Naechte
wundersamerweise in England bei seiner Schwester auf.
Es besteht also die Chance, daß Du dieses eines Tages lesen wirst, besonders, wenn Ian überlebt, denn ich habe ihn damit beauftragt, Dir dies zu übergeben. Vielleicht lernt Ihr beide Euch sogar eines Tages in Indien oder England kennen. Mir gefällt der Gedanke, denn Du, meine einzige Nichte, bist für mich wie eine Tochter, und Ian, mein Freund und Bruder, ist für mich wie der Sohn, den ich niemals haben werde. Ich glaube, Ihr beide würdet Euch mögen.
Aber ich sollte diese leere Seite und meine nachlassende Kraft nicht mit solchen Spekulationen verschwenden. Wenn das Tagebuch Dich erreicht und die Reise sicher und möglich ist, dann möchte ich, daß Du nach Dharjistan in Nordwestindien gehst. Ich habe mit dem Maharadja Rajiv Singh Freundschaft geschlossen, zumindest so, wie ein normaler Sterblicher mit einem Fürsten Freundschaft schließen kann. Ich lernte ihn bei einem Aufenthalt in Indien kennen. Bevor ich mich auf die Reise, die mich nun mein Leben kostet, begab, ließ ich eine Schatulle persönlicher Dinge, hauptsächlich Papiere, bei ihm. Dies ist mein Erbe für Dich. Wenn Du Dich Rajiv Singh als meine einzige lebende Verwandte zu erkennen gibst, wird er Dir die Schatulle geben. Er ist nicht nur ein ehrlicher Mensch - das Kästchen ent-
hält auch nichts, was ein Prinz vielleicht stehlen wollte.
Untersuche die Schatulle und ihren Inhalt sorgfältig. Ich denke, Du wirst feststellen, daß es die Reise wert ist.
Gott beschütze Dich, mein Kind. Vergiß nie, daß Du Russin bist, aber benutze Deinen Stolz als Quelle der Liebe, nicht des Hasses.
Ian war auf dem Weg zurück zu Davids Bungalow, als ein Ruf ihn aufhielt. »Major Cameron Sahib!«
Er zügelte sein Pferd und drehte sich um. »Zafir?« fragte er ungläubig, als er den Mann mit dem Turban erkannte, der mit dem Ungestüm eines Angehörigen der Grenzstämme auf ihn zu galoppierte.
Als der Neuankömmling sein Pferd mit viel aufwirbelndem Staub vor ihm zum Stehen brachte, lachte er laut auf. »Alter Pathanen-Bandit! Ich hätte nicht gedacht, dein Gesicht wiederzusehen. Ich habe im Regiment nach dir gefragt und gehört, du würdest erst in zwei Monaten zurückkommen.«
Zafir grinste, und seine weißen Zähne blitzten in dem dunklen Gesicht mit dem schwarzen Bart auf. »Das hatte ich auch vor, Cameron Sahib, aber ich hörte, daß du zurückgekehrt bist, und so lenkte ich mein Pferd wieder in südliche Richtung. Ich wollte mit eigenen Augen sehen, ob du wirklich überlebt hast oder nur ein Dschinn bist, der feststellen wollte, ob seine Soldaten auch alles richtig machen.«
Mit einiger Verspätung begrüßte Zafir ihn mit einem anständigen Salaam. Ian ergriff Zafirs Hand und schüttelte sie herzlich. Zafir war einige Jahre vor seiner Reise nach Buchara seine Ordonnanz gewesen, und Ian hatte bedauert, daß sie sich wohl nicht mehr sehen würden. »Ich bin kein Offizier mehr, also brauchst du dir keine Sorgen über meine Aufsichtspflicht zu machen. Aber ich fürchte, es wird eine kurze Begegnung, denn ich werde morgen nach Bombay abreisen. Von dort aus geht es nach Hause.«
»Ich begleite dich«, verkündete Zafir, ohne im mindesten zu zögern. »Ich möchte gerne Bombay sehen.« Er lächelte verschmitzt. »Die Frauen dort sind angeblich sehr schön.«
Ein wenig entsetzt fragte Ian: »Willst du wirklich auf diese Weise deine freie Zeit verbringen?«
Zafir hatte die überraschend grauen Augen, die in seinem Volk gelegentlich zu finden waren, und nun zeigte sich in ihren Tiefen ein leichtes Zwinkern. »So oder so. Wenn du schon einen anderen Diener angeheuert hast, dann entlasse ihn. Ich werde es besser machen.«
Ian lachte wieder. Falsche Bescheidenheit hatte noch nie zu Zafirs Wesenszügen gehört. »Ich habe keinen Diener, aber inzwischen eine Frau.«
Die buschigen Brauen des Pathanen hoben sich. »Dann brauchst du wirklich einen Diener. Ein Mann sollte seine Zeit nicht mit unwichtigen Kleinigkeiten verschwenden, wenn er eine Frau hat.«
Ian zögerte eine Weile. Mit Laura allein zu reisen, hatte eine angenehme Intimität bedeutet, aber die Reise nach Bombay war lang. Einen Diener dabei zu haben, gerade wenn er so fähig war, würde eine echte Unterstützung bedeuten. Als er einen Entschluß faßte, erkannte Ian plötzlich, daß sein Bedürfnis nach Einsamkeit zu schwinden schien. Zudem gefiel ihm der Gedanke, mit einem Mann zu reisen, dessen Gesellschaft er so genießen konnte, wie die
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