Inés meines Herzens: Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
ihm die Haut ein, und in dünnen Bahnen rinnt das Blut seinen breiten Rücken hinab. Tief atmet er die würzige Waldluft ein, spürt, wie die leichte Brise und die erste Abendkühle ihn erfrischen. Fresia, die seine Frau sein wird, wenn er im Wettkampf besteht, sieht ihn mit ihren schwarzen Augen durchdringend an, bar allen Mitleids, aber verliebt. Ihr Blick verlangt, daß er gewinnt: Sie begehrt ihn, doch nur den Besten wird sie zum Mann nehmen. In ihrem Haar steckt eine Copihue, die rote Blume des Waldes, ein Blutstropfen der Mutter Erde, der in schwindelnder Höhe wächst und den Caupolicán ihr vom höchsten Baum des Waldes gepflückt hat.
Mit dem Gewicht der Welt auf den Schultern geht der Krieger im Kreis und spricht: »Wir sind der Traum der Erde, sie träumt uns. Auch die Gestirne sind Heimat erträumter Wesen, und die kennen ihre eigenen Wunder. Wir sind Träume in anderen Träumen. Wir sind vermählt mit allem Lebendigen. Wir grüßen die heilige Erde, unsereMutter, die wir in der Sprache der Araukarie und der Winterrinde besingen, in der Sprache der Kirschen und des Kondors. Mögen die Winde des Erkennens die Stimme der Ahnen zu uns wehen, auf daß unser Blick geschärft werde. Möge der Mut der einstigen Toquis durch unsere Adern fließen. Die Alten sagen, die Zeit der Axt ist da. Die Väter unserer Vorväter wachen über uns und führen unseren Arm. Die Stunde des Kampfes ist da. Wir müssen sterben. Leben und Tod sind eins …« Die bedächtige Stimme des Kriegers trägt Stunde um Stunde seine unermüdliche Anrufung vor, während der Baumstamm auf seinen Schultern schwankt. Er ruft die Geister alles Lebendigen an, auf daß sie sein Land verteidigen, seine großen Wasser, seinen Morgendämmer. Er ruft die Vorväter an, auf daß sie den Arm der Männer in Lanzen verwandeln. Er ruft die Bergpumas an, auf daß sie den Frauen ihren Mut und ihre Ausdauer leihen. Die Zuschauer werden müde, sind vom sanften Nieselregen der Nacht durchnäßt, einige entzünden kleine Feuer, um das Rund zu erleuchten, und essen gerösteten Mais, andere schlafen oder gehen fort, aber sie kehren zurück, können nicht glauben, was sie sehen. Mit dem Zweig einer Winterrinde, den sie in das Blut der Opfertiere getaucht hat, besprengt die alte Heilerin den Krieger, um ihm Festigkeit zu geben. Die Frau hat Angst, denn in der Nacht zuvor hat sie von der Fuchsschlange Ñeru-filú und der Hahnschlange Piwichén geträumt, die ihr verkündeten, in diesem Krieg werde das Blut in Strömen fließen und die Wasser des Bío Bío bis ans Ende aller Zeit rot färben. Fresia tritt zu Caupolicán und hält ihm eine Kalebasse mit Wasser an die ausgetrockneten Lippen. Er sieht, daß die festen Hände seiner Liebsten die steinharten Muskeln seiner Brust befühlen, aber er spürt sie nicht, wie er auch keinen Schmerz und keine Müdigkeit mehr spürt. Er spricht weiter wie im Traum, geht wie im Schlaf. So verstreichen die Stunden, die Nacht verrinnt, so bricht der neue Tag an, dringt sein Glanz durchdas Laub der hohen Bäume. Der Krieger schwebt im kühlen Nebel, der sich vom Boden löst, die ersten goldenen Strahlen baden seinen Leib, und er setzt noch immer wie ein Tänzer Fuß vor Fuß, sein Rücken ist rot vom Blut, seine Rede ohne Stocken. »Es ist Hualán, die gesegnete Zeit der Früchte, wenn die heilige Mutter uns Nahrung gibt, die Zeit der Pinien und der Kinder von Tieren und Frauen, der Söhne und Töchter von Ngenechén. Ehe die Zeit der Ruhe, die Zeit der Kälte und des Schlafs der Mutter Erde naht, werden die Huincas hier sein.«
Die Kunde hat sich über die Hügel verbreitet, mehr und mehr Krieger anderer Stämme eilen herbei, und die Lichtung füllt sich mit Menschen. Der Kreis, in dem Caupolicán geht, wird enger. Jetzt ermuntern sie ihn mit Rufen, wieder besprengt ihn die Heilerin mit frischem Blut, Fresia und andere Frauen reiben ihn mit feuchten Kaninchenfellen ab, geben ihm Wasser, stecken ihm vorgekauten Mais in den Mund, den er schlucken kann, ohne seine poetische Rede zu unterbrechen. Die alten Toquis verneigen sich voller Achtung vor dem Krieger, Vergleichbares haben sie nie geschaut. Die Sonne erwärmt die Erde und vertreibt den Nebel, im Licht gaukeln schillernde Falter. Über den Baumkronen zeichnen sich die mächtigen Umrisse des Vulkans und seine nimmer verlöschende Rauchsäule gegen den blauen Himmel ab. »Mehr Wasser für den Krieger«, befiehlt die Heilerin. Caupolicán hat den Wettkampf längst gewonnen, doch er
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