Inés meines Herzens: Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Winterregen trüb gewesen waren, schwollen durch das Schmelzwasser aus den Bergen zu reißenden, türkisfarbenen Strömen an. Für die Tiere gab es saftiges Gras auf den Wiesen, für die Menschen Wild, Feldfrüchte und Beeren im Überfluß. Durch die Verheißungen des Frühlings ließ unsere Achtsamkeit nach, und da, als wir am wenigsten damit rechneten, flohen zweihundert Yanaconas und kurz darauf noch einmal vierhundert. Sie lösten sich einfach inLuft auf; so sehr der strenge Don Benito die Aufseher für ihre Nachlässigkeit und die Indios für ihre Mithilfe züchtigen ließ, keiner wußte zu sagen, wie sie entkommen noch wohin sie gegangen waren. Eines stand jedoch außer Frage: Die chilenischen Indios mußten ihnen geholfen haben, denn sie lauerten überall im Tal und hätten den Fliehenden andernfalls den Garaus gemacht. Don Benito verdreifachte die Wachen und ließ die Yanaconas Tag und Nacht in Fesseln. Mit ihren Peitschen und Hunden patrouillierten die Aufseher unermüdlich rund um das Lager der Hilfstruppe.
Valdivia wartete, bis die staksbeinigen Fohlen von Pferden und Lamas sicher auf ihren Füßen standen, und gab dann Befehl zum Aufbruch in den Süden, ins paradiesische, von Don Benito in schillernden Farben gemalte Tal des Mapocho. Wir wußten, der Gleichklang von Mapocho und Mapuche war kein Zufall: Wir würden es mit den Wilden aufnehmen müssen, vor denen Almagro mit seinen fünfhundert Soldaten und seinen mindestens achttausend Mann starken indianischen Hilfstruppen zurückgewichen war. Wir zählten hundertfünfzig Soldaten und weniger als vierhundert unwillige Yanaconas.
Mit eigenen Augen konnten wir uns von der gedehnten, degengleich schlanken Gestalt dieses Landes überzeugen. Tal reiht sich an Tal, durchströmt von breiten Flüssen, die zwischen Gebirgsketten und Vulkanen dem Meer entgegeneilen. Die Küste ist schroff, die Brandung furchterregend und kalt; dichte, duftende Wälder ziehen sich über die Hügelketten, so weit das Auge reicht. Oft vernahmen wir das Seufzen der Erde und spürten, wie der Boden unter unseren Füßen bebte, doch wich der anfängliche Schrecken der Gewöhnung. »So habe ich mir Chile erträumt, Inés«, gestand mir Pedro, der ergriffen war von der überwältigenden Schönheit des Landes.
Doch wir fanden selten Muße, uns an der Landschaft zu freuen, die Indios des Michimalonko blieben uns auf denFersen und setzten uns zu. Wir konnten nur abwechselnd für kurze Zeit ausruhen, weil jede Unachtsamkeit böse Folgen hatte. Lamas sind zerbrechliche Tiere, ihr Rücken erträgt keine schweren Lasten, deshalb mußten wir den uns verbliebenen Yanaconas die Gepäckstücke der Entflohenen aufbürden. Obwohl wir uns von allem trennten, was nicht unbedingt notwendig war – darunter von mehreren meiner Truhen mit eleganten Kleidern, für die ich hier keine Verwendung hatte –, schleppten die Indios schwer an der Last und blieben obendrein in Fesseln, so daß wir nur mühsam und schwerfällig vorankamen. Die Soldaten trauten ihren indianischen Mädchen nicht mehr über den Weg, weil die offenbar doch nicht so unterwürfig und begriffsstutzig waren wie ursprünglich angenommen. Sie wohnten ihnen weiter bei, wagten in ihrer Gegenwart jedoch nicht mehr zu schlafen, und mancher meinte gar, er werde nach und nach von ihnen vergiftet. Doch war es kein Gift, was ihre Seele zersetzte und ihre Knochen zermürbte, sondern pure Erschöpfung. Etliche der Männer ließen ihr Unbehagen an ihren Mädchen aus; Valdivia drohte damit, sie ihnen wegzunehmen, und in zwei oder drei Fällen tat er das auch. Die Soldaten muckten auf, wollten nicht hinnehmen, daß ihnen jemand, und sei es auch ihr Befehlshaber, vorschrieb, wie sie mit ihren Buhlen umzuspringen hatten, aber Pedro behielt wie immer die Oberhand. Wir müssen gutes Beispiel geben, sagte er. Er werde nicht zulassen, daß die Spanier sich schlimmer gebärdeten als die Wilden. Die Truppe gehorchte ihm schließlich widerstrebend und halbherzig. Von Catalina erfuhr ich, daß die Frauen weiterhin geschlagen wurden, aber nicht mehr ins Gesicht oder an andere Stellen, wo man die Spuren hätte sehen können.
Immer dreister wurden die Attacken der Indios von Chile, und wir mußten an den unglücklichen Escobar denken. Ob er ein langsames und grausiges Ende gefunden hatte? Niemand wagte, offen über den Jungen zu sprechen unddas Unglück damit heraufzubeschwören. Wenn wir seinen Namen und sein Gesicht vergaßen, würde er seinen Feinden vielleicht
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