Ines oeffnet die Tuer
Verschollenen gesucht, in den umliegenden Dörfern, an Raststätten der angrenzenden Autobahn.
Aber Agnes blieb spurlos verschwunden.
Die Polizei stand vor einem Rätsel und Veiths Verzweiflung wuchs. Er hing in den nächsten Tagen ununterbrochen am Telefon und versuchte alte Freunde, Bekannte und entfernte Verwandte von Agnes zu erreichen, in der Hoffnung, dass irgendjemand etwas wusste oder sie gesehen hatte.
So kannte Ines ihren Vater gar nicht. Wie sehr er an seiner Mutter hing, war ihr nicht bewusst gewesen, und es schmerzte sie, ihm nicht die Wahrheit sagen zu können. Ines wusste als Einzige, dass Agnes am Leben war â auch wenn sie nicht sagen konnte, wo sie sich aufhielt und wie sie den Sturz in den Weiher überlebt hatte.
Es muss alles mit diesem alten Mann zusammenhängen, folgerte sie. Agnes hat sich vor ihm versteckt. Irgendwie hat sie es ins Refugium geschafft â aber was geschah dann? Wo mag sie jetzt sein? Warum hat sie mir diese läppische Karte geschrieben? Hatte sie keine Zeit für einen Brief? Oder wollte sie mir etwas von Angesicht zu Angesicht sagen? Ist die Tür deshalb in der Schule aufgetaucht?
So viele Fragen, aber keine Antworten. Das Schlimmste war, dass Ines mit niemandem darüber reden konnte. Veith war nicht ansprechbar, Carmen fiel in ihre alte Trauer zurück, Julian war zu klein und bei Sonja hatte sie Angst, sich zu verplappern.
Die Tür des Refugiums hatte indes wieder den alten Platz an der Wand ihres Zimmers eingenommen. In ihrer Ratlosigkeit begann Ines, den Raum zu durchsuchen. Aber alles, was sie fand, war ein Haufen alter Fotos in den Schubladen der Kommode. Agnes mit ihrem Mann Gregor am Grauweiher, er mit seiner Angelrute und einem verwegenen Strohhut auf dem Kopf, sie in einem hinreiÃenden Sommerkleid. Agnes als junge Frau in einer Autowerkstatt, Hände und Gesicht ölverschmiert, lachend, braun gebrannt, fröhlich. Agnes als junge Frau in einem Tanzkostüm, neben ihr eine zweite Frau mit gelocktem, kurzem Haar ⦠ob das Lucie Paulette war?
Und da waren Kinderfotos von Agnes: Ein dünnes Mädchen, das mit seiner Mutter am Esstisch saÃ. Trotz der vielen Jahre, die seit der Aufnahme vergangen waren, erkannte Ines ihre Oma sofort â an der kühn geschwungenen Nase und den durchdringenden Augen, die sie schon als Kind gehabt hatte. Ein weiteres Bild: Agnes in einer zerstörten Wohnung, neben ihr ein blasser, schwarzhaariger Junge, der sie anlächelte, als wollte er sie trotz der schrecklichen Kulisse beruhigen.
Es musste ein Foto aus dem Krieg sein.
Den Jungen entdeckte Ines noch auf zwei, drei anderen Bildern. Einmal hielten er und Agnes sich an den Händen, während sie durch ein Fenster blickten, hinter dem dichter Nebel waberte. Beide wirkten angespannt.
Zwar war die Aufnahme schwarz-weiÃ, aber Ines erkannte sofort, dass sie im Refugium entstanden war.
Aber wer ist der Junge?, fragte sie sich. Hat Agnes nicht gesagt, dass sie neben ihrer Mutter die Einzige war, die das Refugium betreten konnte? Auch in diesem Punkt hat sie mich also angelogen!
Sie ging zum Fenster und blickte in den Nebel. Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, was dort drauÃen eigentlich war. Gar nichts? Wenn sie das Fenster öffnen und einen Stein nach drauÃen werfen würde, fiele er dann ins Bodenlose?
Noch während sie darüber nachdachte, entdeckte Ines ein Licht im Nebel.
Es war nur kurz zu sehen, als die Nebelfetzen auseinanderrissen: ein flackerndes, helles Licht in der Ferne, wie ein schwach glimmender Stern am Nachthimmel oder der Schein einer entrückten StraÃenlaterne.
Ines kniff die Augen zusammen. Einmal noch gelang es ihr, das Licht wiederzufinden. Aber dann verdichtete sich der Nebel.
Wo ein Licht ist, muss etwas sein, dachte sie. Oder jemand â¦
Aber das alles brachte sie nicht weiter. Statt Antworten zu bekommen, fand sie nur neue Fragen.
Ines wandte sich vom Fenster ab.
»Ich wünsche mir, dass Agnes zurückkommt«, sagte sie laut. »Kannst du mir das erfüllen?«
Der Raum blieb stumm.
»Du kannst es nicht, habe ich recht? Das dachte ich mir.«
Enttäuscht schritt Ines zur Tür, griff nach der Frau mit dem wehenden Gewand und verlieà das Refugium. Sie knallte die Tür hinter sich zu.
In ihrem Zimmer schmiss sie sich auf das Sofa und dachte nach.
Also gut, was weià ich? Dass Agnes verschwunden ist, weil sie sich vor diesem Mann verstecken
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