Ines oeffnet die Tuer
Oma, ich will sie wiederhaben. Du hast keine Ahnung, wie sich das anfühlt!«
»Doch«, sagte Karol. Er zeigte auf ein Foto an der Pinnwand. Dort war er neben einem Mann mit grau meliertem Haar zu sehen. Sie standen an einem Bach, mit Sonnenhüten auf den Köpfen.
»Mein Vater ist auch verschwunden.«
Ines sah ihn mit groÃen Augen an.
»Seit wann?«
Karol stellte das leere Saftglas beiseite. »Seit zwei Jahren. Ich weià zwar, dass er noch lebt. Aber das macht es nicht besser.«
»Wie ist er denn verschwunden?«
Karol wich ihrem Blick aus. »Es fing alles vor drei Jahren an. Da hat er in Deutschland keine Arbeit mehr gefunden. Freunde aus Polen haben ihm eine Stelle in England vermittelt. Meine Mutter wollte aber nicht dorthin ziehen, sie hat hier einen guten Job im Krankenhaus. Also fing er an zu pendeln. Zwei Monate in England, eine Woche hier, dann wieder zurück. Ãbergangsweise, so hieà es am Anfang. Irgendwann wurden aus den zwei Monaten drei, dann kam er gar nicht mehr.« Karol nagte an seiner Unterlippe. »Meine Mutter ist nach England gereist und hat ihn gesucht. Aber unter seiner alten Adresse war er nicht zu finden. Hat sich nie mehr gemeldet, nicht angerufen, gar nichts. Wir haben herausbekommen, dass er mit einer anderen Frau zusammenlebt. Einer, die schon seit Jahren seine Geliebte war.« Seine Augen verdüsterten sich. »Seit zwei Jahren hat er nichts von sich hören lassen. Da siehst du es: Er lebt und bleibt trotzdem verschwunden. Weil er es so möchte.«
Ines legte ihre Hand auf seine. Sie wollte Karol trösten. Er lieà die Berührung zu.
»Das ist wirklich gemein von deinem Vater«, sagte sie. »Aber ich bin sicher, irgendwann ändert er seine Meinung und will dich und deine Geschwister wiedersehen.«
»Der kann mir gestohlen bleiben«, fauchte Karol. »Ich bin fertig mit ihm.«
In diesem Augenblick klopfte es an der Zimmertür. Ines zog rasch ihre Hand zurück.
Karols Mutter kam herein. Sie war eine hagere Frau mit einem gewinnenden Lächeln. In den Händen hielt sie einen Teller mit Keksen.
»Hier, für deine Freundin.« Sie hatte einen starken polnischen Akzent. Den Teller stellte sie zwischen Ines und Karol aufs Bett. »Magst du sie mir nicht vorstellen?«
Karol tat es, und seine Mutter zog sich zurück, um nicht weiter zu stören. Trotzdem war der Moment der Nähe zwischen Ines und Karol verstrichen. Am liebsten hätte sie sofort wieder seine Hand genommen. Aber sie traute sich nicht.
»Das mit meinem Vater darfst du keinem sagen«, schärfte er ihr ein. »Ich habe es dir nur erzählt, damit du weiÃt, dass ich dich verstehe.« Er blickte Ines ernst an. »Und wegen deiner Oma solltest du dir keine Hoffnungen machen, die am Ende enttäuscht werden. Den Fehler habe ich gemacht. Wenn ein Mensch verschwindet, weil er es möchte, hat man keine Macht, ihn zurückzubringen. Auch wenn man es sich noch so sehr wünscht. Wünsche gehen nicht in Erfüllung.«
Manche schon, dachte Ines. So wie der, dich allein zu treffen. Ohne Sonne oder ein anderes Mädchen.
Sie nahm allen Mut zusammen und legte ihre Hand noch einmal auf seine.
Diesmal verschränkten sich ihre Finger.
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23.
Abends im Bett lag Ines lange wach und dachte an den Nachmittag bei Karol.
War das schön! Mit ihm zu reden ⦠seine Hand zu halten ⦠auf dem Bett mit ihm zu kuscheln ⦠beim Abschied hätte er mich fast auf den Mund geküsst. Warum hat er es nicht getan? Er sah aus, als ob er es wollte. Hätte ich es versuchen sollen?
Sie rief sich sein Gesicht in Erinnerung. Seine blauen Augen, seine Hände, den Mund mit den hübschen Lippen. Wie mochte es wohl sein, ihn zu küssen? Oder ihn nackt zu sehen? Aus dem Schwimmunterricht wusste sie, dass er einen tollen Körper hatte, sicher weil er so viel Sport trieb. Wenn sie nur daran dachte, wurde ihr schwindelig.
Ines drehte sich auf die Seite und klemmte die Bettdecke zwischen ihre Beine. Sie genoss das schöne, intensive Gefühl, berührte sich zaghaft und stellte sich vor, es wäre Karol ⦠sie wollte einfach ihren Körper spüren und sich nicht einsam fühlen.
Ob er noch wach ist? Ob er an mich denkt? Ich hätte nie gedacht, dass man so ernste Gespräche mit einem Jungen führen kann. Auch wenn ich ihn beim nächsten Mal lieber küssen will. Verdammt, hätte ich es
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