Ines oeffnet die Tuer
der Wand hingen ein Marienbild und Luftaufnahmen eines Gebirges. Bratengeruch durchzog die Luft, offenbar kochte Karols Mutter gerade das Abendessen.
»Gibt hier nicht viel zu sehen«, murmelte Karol. Ihm war die enge Wohnung wohl peinlich.
Rasch führte er Ines durch den Flur in sein Zimmer. Es war so groà wie ihr eigenes, nur dass zwei Betten darin standen. Ãber dem einen hingen Poster von FuÃballspielern und Musikbands, über dem anderen selbst gemalte Comiczeichnungen.
»Das gehört meinem Bruder«, erklärte Karol.
»Du wohnst mit deinem Bruder in einem Zimmer? Wie alt ist er denn?«
»Neun. Aber das passt schon. Wir verstehen uns gut. Früher habe ich mir mit meiner Schwester das Zimmer geteilt, aber sie hat jetzt ihr eigenes.«
Ines kannte Karols Schwester, die eine Klasse unter ihr war. Klar, dass sie mit zwölf Jahren ein eigenes Zimmer brauchte.
»Ich glaube, ich könnte das nicht«, sagte sie, »mit meinem Bruder ein Zimmer teilen. Allerdings ist Julian auch eine Nervensäge. Acht Jahre, aber er benimmt sich wie sechs.«
Karol wechselte das Thema. »Willst du was trinken? Saft oder Tee?«
»Einen Saft bitte.«
Er verschwand im Flur. Sie hörte ihn mit seiner Mutter polnisch reden. In der Zwischenzeit sah sie sich verstohlen seine Sachen an. Auf dem Schreibtisch stapelten sich Schulbücher, neben dem Bett entdeckte sie eine FuÃballzeitschrift und ein paar CDs. Die Bettdecke war ordentlich gefaltet und es lagen keine Klamotten herum, nicht einmal eine Socke. Ines wettete, dass er das Zimmer nach ihrem Telefonat rasch aufgeräumt hatte.
Dann bemerkte sie die Pinnwand neben dem Fenster. Fotos von Karol mit seinen Freunden vom FuÃball, Bilder von seiner Firmung, ein paar Urlaubsaufnahmen. Auf einem Foto war Anfisa zu sehen, vor einer riesigen Geburtstagstorte. Sie umarmte Karol und er hatte die Hand auf ihre Hüfte gelegt.
Nur gute Freunde, dachte Ines traurig. Schon verstanden!
Ihr kamen die Bilder von Agnes in den Sinn, die Schwarz-WeiÃ-Aufnahmen aus dem Refugium. Es war schon seltsam, wie solche Fotografien Momente der Vergangenheit festhielten, welche Geschichten sie erzählten, welche Geheimnisse sie enthüllten und welche sie verschwiegen. Wer war wohl der schwarzhaarige Junge gewesen, der als Kind mit Agnes im Refugium gewesen war? Sie hatte ihn nie erwähnt.
Karol kehrte mit zwei Gläsern Orangensaft zurück. Sie setzten sich nebeneinander auf das Bett.
»Hast du häufig Besuch von Mädchen?«, fragte sie ihn.
»Ehrlich gesagt bist du die Erste. Ich finde unsere Wohnung nicht so zeigenswert.« Karol nippte an seinem Saft. »Du kannst dich also geehrt fühlen.«
»Na, da habe ich ja Glück!«
»Hast du wirklich. Ich habe das nur vorgeschlagen, weil du am Telefon so niedergeschlagen warst. Nein, nicht niedergeschlagen ⦠ratlos.« Er knuffte Ines in den Arm. »Sag schon, was ist los?«
Sie nahm einen groÃen Schluck Saft.
Dann begann sie zu erzählen. Von dem Augenblick, als ihr Vater in die Turnhalle gestürmt war. Von Agnesâ Verschwinden und den Tauchern im Grauweiher. Vom Verhör der Nachbarin. Ines erzählte Karol einfach alles, abgesehen von dem Refugium und der Karte, die Agnes hinterlassen hatte.
Karol hörte geduldig zu. Er hatte schöne dunkelblaue Augen, die Selbstsicherheit ausstrahlten. Ines hatte fast das Gefühl, darin zu versinken. Es war, als verstünde er jeden Gedanken von ihr, auch jene, die sie eigentlich vor ihm verbarg.
Als sie geendet hatte, rutschte sie auf dem Bett nach hinten und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand.
»Und du bist dir sicher, dass deine Oma nicht ertrunken ist?«
»Ich weià es! Sie würde niemals so unvorsichtig sein.«
»Und du glaubst, es hat etwas mit dem Mann zu tun, der sie besucht hat? Was kann er von ihr gewollt haben?«
Am liebsten hätte Ines nun doch vom Refugium erzählt und von ihrem Telefonat mit Agnes, ehe sie verschwunden war. Aber sie durfte es nicht. Es war zum Verrücktwerden!
»Ich weiÃ, dass Agnes lebt und sich versteckt. Ich glaube sogar, es ist ihr recht, dass man sie für tot hält.«
Karol wirkte plötzlich eigentümlich distanziert. »Und du glaubst, sie taucht einfach so wieder auf?«
»Ja natürlich!«
»Sei dir da mal nicht so sicher â¦Â«
Ines wurde wütend. »Warum sagst du so was? Ich liebe meine
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