Ines oeffnet die Tuer
zumuten.«
Veith blickte Ines ernst an. Sie reagierte sofort.
»Ich warte in Omas Haus.«
Sie lief los, so schnell sie konnte.
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Vor dem Haus parkte ein weiteres Polizeiauto. Zwei Beamte befragten eine ältere Frau. Das musste die Nachbarin sein, die den Sturz in den Weiher beobachtet hatte.
Niemand beachtete Ines, als sie sich anschlich und hinter dem Polizeiwagen lauschte.
»Ich habe doch schon alles gesagt«, hörte sie die Stimme der Nachbarin. »Frau Larik fiel einfach ins Wasser. Es sah nicht so aus, als wäre sie ausgeglitten. Mehr, als würde sie springen.«
Einer der Polizisten machte sich Notizen in sein Buch. »Wann haben Sie die alte Frau denn vorher zuletzt gesehen?«
»Das war vorgestern. Sie unterhielt sich hier vor dem Haus mit einem Mann. Ich habe ihn nie zuvor im Dorf gesehen. Er war groÃ, fast eins neunzig, würde ich sagen. Etwa siebzig Jahre alt, elegant gekleidet. Er trug einen Mantel mit Hirschhornknöpfen und einen englischen Hut, so einen Bowler â¦Â«
»Und Sie sagen, Frau Larik hätte mit dem Herrn gestritten?«
»Nicht richtig gestritten, aber sie wirkte aufgebracht. Offenbar wollte sie ihn loswerden, und er wollte nicht gehen. Das war wirklich ein seltsamer Mann. Er hat sich den halben Tag im Dorf herumgetrieben und nach Frau Larik erkundigt, wollte alles über sie wissen ⦠unheimlich war der.«
»Und er war der einzige Besucher von Agnes Larik in letzter Zeit?«
»Da war noch dieses Mädchen, ihre Enkeltochter. Die war vor Kurzem ohne ihre Eltern hier. Ich habe sie an der Bushaltestelle gesehen â¦Â«
Ines hatte genug gehört und zog sich zurück. In ihrem Kopf kreisten die Gedanken.
Der Mann, von dem Agnes gesprochen hatte, war also tatsächlich hier gewesen. Kurz darauf hatte Agnes bei ihr angerufen und dann war sie in den Weiher gestürzt ⦠das war kein Zufall!
Ines musste daran denken, wie sie am Morgen die Tür des Refugiums im Umkleideraum der Schule gesehen hatte. An das Ticken der Uhr, den Schatten, der die Lehne des Sessels verdunkelt hatte, und den süÃen Geruch nach Aprikosen und Lavendel ⦠sie hatte ihn gleich wieder in der Nase.
Natürlich! Jetzt erst begriff sie.
Es war Agnesâ Parfüm, das sie gerochen hatte. Deswegen war es ihr so bekannt vorgekommen.
»Dann war Agnes die Person im Refugium«, flüsterte sie. »Und wenn sie dort war, kann sie nicht ertrunken sein.«
Einer Eingebung folgend schlich sie zum Haus. Die Tür stand offen. Vorsichtig schritt sie die knarzende Treppe zum ersten Stock hinauf. Es war eigentümlich still hier.
Im Wohnzimmer stand auf dem Esstisch noch ein Teller mit Brotkrümeln, daneben eine erkaltete Tasse Tee. Agnes musste gefrühstückt haben, ehe sie zum Weiher aufgebrochen war.
Ines spähte in den Flur, wo sie die Tür des Refugiums zum ersten Mal gesehen hatte. Er war dunkel.
Dann hörte sie Musik.
Ein französisches Chanson ⦠die Stimme von Lucie Paulette, Agnesâ Freundin aus Paris.
Die Tür des Refugiums war an derselben Stelle, wo Ines sie bisher immer gefunden hatte. Diesmal war sie geschlossen.
Ines drückte den Widderhorngriff und öffnete die Tür. Ihre Hand war feucht und rutschig.
»Agnes?«, wisperte sie, ehe sie eintrat. »Bist du hier drinnen?«
Niemand antwortete. Nur Lucie Paulette sang ihr melancholisches Lied, untermalt vom Knistern des Grammofons. Es stand wieder auf der Kommode. Der ozeanblaue Trichter glänzte im Deckenlicht. Neben ihm seufzte die Uhr, deren Zeiger auf zwei Uhr standen. Der ovale Spiegel und die Scherben, die bei Inesâ letztem Besuch auf dem Teppich gelegen hatten, waren verschwunden.
Als Ines zum Sessel trat, entdeckte sie einen Briefumschlag aus fliederfarbenem Büttenpapier. Er steckte zwischen Sitzfläche und Rückenlehne. Darauf war mit geschwungenem Federstrich ein Name geschrieben: Ines.
Sie öffnete ihn mit zitternden Fingern.
Er enthielt keinen Brief, nur eine Karte.
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Sorge dich nicht um mich. Es geht mir gut. Denk an die Regeln. Ich liebe dich, Agnes.
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Ines lieà die Karte sinken.
Sie wusste nicht, ob sie erleichtert, beunruhigt oder einfach nur wütend sein sollte. Oder alles zugleich.
21.
Die Suche blieb erfolglos. Zweimal stocherte die Polizei den Grund des Weihers ab, durchkämmte das Schilf am Ufer, die Feuchtwiesen hinter dem See. Dann wurde im Wald nach der
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