Ines oeffnet die Tuer
das Buch und warf sich in den Sessel. Neugierig blätterte sie in den alten Seiten.
Also gut, fasste sie zusammen. Ein wenig schlauer bin ich schon. Ich weiÃ, dass es andere Refugien gibt, in denen andere Menschen leben. Ich weiÃ, dass Vopelian ein zweitausend Jahre alter Spinner aus Athen ist. Und ich weiÃ, dass man nicht umkommt, wenn man das Fenster aufmacht.
Sie fragte sich, ob Agnes auch im Nebel verschwunden war. War das nicht eine mögliche Erklärung? War sie ins Refugium geflohen und durch das Fenster nach drauÃen geklettert, um sich vor dem geheimnisvollen Mann zu verstecken, der sie im Dorf besucht hatte?
Fragen über Fragen. Und die Antworten warteten in diesem Buch â das sie nicht lesen konnte!
»Vopelian wird mir nicht helfen, es zu verstehen«, sagte sie nachdenklich, während sie das Buch in den Händen wog. »Wen könnte ich noch fragen? Papa vielleicht?«
Nein, auf keinen Fall. Veith würde bloà fragen, woher Ines das Buch hatte. AuÃerdem konnte er kein Altgriechisch.
Herr zu Hausen! Natürlich, warum war sie nicht gleich auf ihn gekommen? Herr zu Hausen konnte das Buch bestimmt übersetzen. Sie musste ihm nur einschärfen, ihrem Vater nichts davon zu sagen.
Nun war sie Feuer und Flamme. Rasch räumte sie das Schachspiel zusammen, das Vopelian zurückgelassen hatte, schnappte sich das Buch und die Kanne mit der inzwischen erkalteten Schokolade und stürmte aus dem Refugium.
DrauÃen verhallten gerade die letzten Klänge der Miranda-Kersh-CD. Ines hatte vergessen, die Anlage im Wohnzimmer auszuschalten, ehe sie ins Refugium gegangen war. Es war also nur eine halbe Stunde verstrichen, während sie mit Vopelian Schach gespielt hatte.
Ohne lange zu zögern, klingelte sie beim Nachbarn.
Es dauerte eine Weile, bis Guido zu Hausen öffnete. Die Augen hinter seinen Brillengläsern waren noch kleiner als sonst. Offenbar hatte Ines ihn aus dem Nachmittagsschlaf gerissen.
»Ines? So eine Ãberraschung. Schickt dich dein Vater?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Ist deine GroÃmutter wieder aufgetaucht?«, fragte Herr zu Hausen. »Ihr macht euch bestimmt groÃe Sorgen um sie. Hoffentlich geht es der alten Dame gut.«
»Da bin ich mir sicher«, sagte Ines mit Nachdruck. »Haben Sie kurz für mich Zeit? Ich habe eine Frage.«
Herr zu Hausen kratzte sich am Kopf und bat Ines hinein. Im Wohnzimmer herrschte unglaubliches Chaos. Ãberall lagen Zeitschriften herum, Bücher türmten sich bis auf Hüfthöhe und die Wohnung war schlecht gelüftet.
»Entschuldige die Unordnung«, sagte Herr zu Hausen. »Was kann ich für dich tun?«
Ines sah ihn erwartungsvoll an. »Können Sie Altgriechisch lesen?«
»Selbstverständlich«, erwiderte er fast gekränkt. »Ich habe sowohl das Graecum als auch das Latinum. AuÃerdem beherrsche ich Französisch, Spanisch, Italienisch, Russisch und Portugiesisch â¦Â«
Ines fragte sich, wie viele Sprachen Vopelian wohl konnte. Er hatte immerhin ein paar Jahrhunderte Zeit gehabt, neue zu lernen.
»Dann können Sie mir bestimmt helfen.«
Sie holte das Buch hervor, das sie hinter dem Rücken versteckt hielt.
Herr zu Hausen sah es ungläubig an.
»Was ist das?«
»Das ⦠habe ich von Oma Agnes«, log Ines. »Und ich muss wissen, worum es darin geht. Es ist sehr, sehr wichtig.«
Herr zu Hausen nahm seine Brille ab und betrachtete das Buch aus der Nähe. Der Glanz seiner Augen verriet Erstaunen.
»Das ist ja ein Original«, murmelte er. »Wo hat deine Oma es her?«
»Das darf ich Ihnen nicht sagen. Und sie dürfen auch meinem Vater nichts erzählen. Ich ⦠habe es Agnes versprochen.«
Herr zu Hause nickte geistesabwesend. Vorsichtig legte er das Buch auf den mit Zeitungen bedeckten Wohnzimmertisch und blätterte darin.
»Das ist ein sehr altes und kostbares Werk, Ines. Ich habe so etwas noch nie auÃerhalb einer Bibliothek gesehen. Bist du sicher, dass deine Oma es nicht vermisst?«
»Im Augenblick vermissen wir sie wohl mehr«, erwiderte Ines trocken. »Sie wollte, dass ich es für sie aufbewahre. Und ich dachte mir, es gibt darin vielleicht einen Hinweis, wo sie ist.«
Sie wusste, dass diese Geschichte nicht sonderlich glaubwürdig klang. Aber Herr zu Hausen war längst zu gefesselt von dem Buch, um misstrauisch zu werden. Atemlos las er einige Zeilen.
Weitere Kostenlose Bücher