Ines oeffnet die Tuer
Seine Lippen murmelten Worte, die Ines nicht verstand. Dann blätterte er zum Anfang des Buchs.
»Was steht denn da?«, fragte Ines aufgeregt.
»Ein faszinierendes Werk ⦠aus dem späten Mittelalter, würde ich sagen. Hervorragend erhaltenes Pergament. Nachträglich gebunden.« Er blickte Ines begeistert an. »Es scheint eine Art kosmologische Lehre zu sein. WeiÃt du, was das ist?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Eine Beschreibung der Welt, wie die Menschen sie sich einst vorgestellt haben. Die Gestalt der Erde und der Meere, des Weltalls und der Sterne. Ihre Erschaffung, ihr Werden und Vergehen. Aus heutiger Sicht natürlich überholt.« Guido zu Hausen blätterte vorsichtig um und las weiter. »Und hier geht es um ein Gebäude ⦠um ein Haus.«
»Ein Haus?«, hakte Ines nach. »Mit Fenstern?«
»Von Fenstern steht hier nichts. Ich glaube, es ist eher symbolisch gemeint ⦠das Haus steht für unsere Welt. Nein, warte ⦠hier steht, es wäre nur in unserer Vorstellung ein Haus. Tatsächlich wäre es etwas viel GröÃeres. Hm ⦠ich begreife es nicht.«
Er schüttelte den Kopf, las weiter und murmelte vor sich hin. Dann blickte er wieder auf.
»Ines, das ist nicht leicht zu verstehen. Sehr verwirrend geschrieben und viele Wörter kenne ich gar nicht. Ich fürchte, ich werde etwas Zeit brauchen.« Er setzte seine Brille wieder auf. »Woher mag deine Oma nur ein so wertvolles Buch haben?«
Wenn du nur wüsstest, dachte Ines.
»Darf ich es eine Weile behalten, um es in Ruhe zu studieren?«
»Ich ⦠weià nicht«, stammelte Ines überrumpelt. »Agnes hat eigentlich gesagt, ich darf es nicht aus der Hand geben.«
»Natürlich passe ich darauf auf«, versicherte Herr zu Hausen. »Bis morgen habe ich es durch.«
Ines gab schweren Herzens nach.
»Aber Sie dürfen meinen Eltern nichts davon sagen.«
Er hob die Hand zum Schwur. »Ich verspreche es hoch und heilig.«
Â
28.
Ines konnte kaum erwarten, was Herr zu Hausen über das Buch erzählen würde. Am nächsten Tag war sie in der Schule ganz hibbelig und sehnte die letzte Stunde herbei.
Zwischen ihr und Sonja herrschte immer noch Funkstille. In den Pausen gingen sie sich aus dem Weg, auch wenn Ines mehrmals Blickkontakt suchte.
Ich weià gar nicht, was eigentlich los ist, dachte sie wehmütig. Warum verhalten wir uns so? Ist es wirklich so schlimm, dass ich ihr das mit Karol nicht gesagt habe?
Karol war auch so ein Thema ⦠er ignorierte Ines nämlich ebenfalls. Gut, er lächelte sie in der groÃen Pause ein paarmal an, aber sonst hing er mit den Jungs aus den höheren Klassen herum. Er tat so, als wäre zwischen ihnen nichts gewesen.
Ich bin so blöd gewesen, warf Ines sich vor. Dachte ich wirklich, er will was von mir?
Am liebsten hätte sie ihren Frust laut herausgeschrien. Aber noch galt es, die letzte Stunde zu überstehen: Matheunterricht. Frau Wunder gab sich wieder alle Mühe, die Schüler mit komplizierten Aufgaben zu quälen.
»Ein kleiner Vorgeschmack auf das nächste Schuljahr«, flötete sie mit ihrer Feenstimme. »Das wird nicht leicht. Wer da nicht lernt, hat wenig Chancen, mitzuhalten.« Sie warf einen Blick auf den Wandkalender. »Und es ist nicht mehr lange hin. Noch zwei Wochen bis zu den Sommerferien. Was nicht heiÃen soll, dass wir bis dahin nichts lernen wollen.«
Ja klar,
wir
, hätte Ines am liebsten in Sonjas Ohr geraunt. Es fehlte ihr, mit ihrer Freundin über Frau Wunder zu tuscheln. Dieser Streit war so unnötig!
»Aber erst müssen wir über das Schulfest sprechen«, fuhr Frau Wunder fort. »Ihr wisst ja, alle Klassen sollen ihren Beitrag leisten. Die Achter sind für die Dekoration der Aula zuständig. Habt ihr schon irgendwelche Ideen?«
An das Schulfest hatte Ines gar nicht mehr gedacht. Dabei hatten sie und Sonja sich so darauf gefreut. Es war in den letzten Jahren ein groÃes Ereignis gewesen, und je älter sie wurden, desto mehr Spaà machte es. Das Schulfest fand immer am letzten Freitag vor den Sommerferien statt, begann am Nachmittag und ging bis in den späten Abend (zumindest für die höheren Klassen). Es gab Musikaufführungen und Spiele, ein Kuchenbuffet, eine Disco, und die Lehrer waren meist lockerer als sonst. Bis auf Frau Wunder natürlich.
Sonja und Ines hatten sich
Weitere Kostenlose Bücher