Ines oeffnet die Tuer
mit reinstem Wasser, Statuen, umherplanschenden Nymphen und einer offenen Kuppel, durch die man die Sterne hätte beobachten können. Ein zweiter Raum wäre voller Edelsteine gewesen, und hätte man einen von ihnen aufgehoben, wären an seiner Stelle zwei neue aus dem Boden gewachsen. In einem dritten Raum hätte eine Tafel mit den köstlichsten Speisen gestanden, in einem weiteren wären Elefanten friedlich umhermarschiert und sprechende Affen hätten mit ebenso sprachbegabten Papageien philosophische Debatten geführt. Kurz: Es gab alle Wunder, die man sich denken konnte.«
»Das muss ja ein riesiges Haus gewesen sein«, sagte Ines skeptisch.
»Ich glaube, man muss das wirklich als Märchen verstehen, Ines. Als Symbol! Ich sehe einen deutlichen Zusammenhang zum ersten Teil. Das Haus ist die Welt der Vorstellung, von der Kappadokios dort erzählte. Ich glaube nicht, dass es wirklich existiert hat.«
Ines war sich da nicht ganz so sicher.
»Schreibt er denn, wie das Haus erbaut wurde? Und was aus ihm wurde?«
»Davon handelt der dritte Teil. Er ist der mysteriöseste und unheimlichste Abschnitt. Kappadokios berichtet, dass die Bewohner des Hauses mit den Jahren seltsam wurden. Sie verbrachten zu viel Zeit im Haus, manche wollten es gar nicht mehr verlassen, weil es ja darin alles gab, was sie brauchten. Andere nutzten die Reichtümer des Hauses, um sich Macht in der wirklichen Welt zu verschaffen, andere Menschen zu verführen und ihre Feinde zu vernichten. Irgendwann brach Streit aus. Ein Kampf entbrannte um das Haus, da jeder es für sich haben wollte.«
»Und wie ging dieser Kampf aus?«
»Das steht nicht in dem Buch. Irgendeine Katastrophe muss sich ereignet haben. Das Haus verschwand von einem Tag auf den anderen, mit all den wunderbaren Zimmern und Schätzen darin. Sie wurden von einem geheimnisvollen Nebel verschlungen, und dort, wo das Haus einst gestanden hätte, wäre nicht einmal mehr ein Kieselstein zu finden gewesen. Auch die Bewohner des Hauses wären ins Verderben gerissen worden, zur Strafe für ihre Gier und Streitsucht.«
»Starben sie im Nebel?«, wisperte Ines.
»Vielleicht. Kappadokios schreibt, dass der Nebel alles verschlang. Ein paar Tapfere hätten sich zwar hineingewagt, um Freunde aus dem Haus zu retten, aber sie wären nicht zurückgekehrt.« Herr zu Hausen nickte ernst. »So endet das Buch. Eine schauerliche Geschichte, nicht wahr?«
Nicht nur eine Geschichte, dachte Ines. Sie ist wahr! Dieses Haus gab es wirklich. Und seine Räume â¦
Sie wagte nicht, den Gedanken zu Ende zu führen.
»Natürlich habe ich dir nur die wichtigsten Stellen erzählt. Die gesamte Geschichte ist komplizierter, und wie gesagt, nicht alles war leicht zu verstehen. Aber ich denke, mit einer gründlichen Ãbersetzung â¦Â«
»Vielen Dank«, unterbrach Ines Herrn zu Hausen. »Das hat mir sehr geholfen.« Sie stand auf. »Kann ich das Buch jetzt wiederhaben?«
Herr zu Hausen lieà die Zettel sinken.
»Wie bitte? Ich habe doch erst angefangen, mich damit zu befassen. Es sind noch viele Fragen offen. Gerade das Ende habe ich nur überflogen ⦠da steht sicher noch mehr über den Nebel und das Schicksal des Hauses.«
»Ein andermal«, sagte Ines. »Ich brauche das Buch jetzt gleich.«
Guido zu Hausen sah sie enttäuscht an. Dann räusperte er sich.
»Ich fürchte ⦠das geht nicht.« Seine Hand fuhr über den roten Bart, als wollte er dort einen Krümel wegwischen.
»Das geht nicht?« Inesâ Stimme wurde schrill. »Und warum nicht?«
»Weil es nicht hier ist. Ich habe es verliehen.«
32.
Ines war fassungslos.
»Sie haben es ⦠verliehen? Das glaube ich nicht! Warum? An wen? Ich â¦Â«
»Verliehen ist eventuell das falsche Wort«, schränkte Herr zu Hausen ein. »Du musst mich verstehen, Ines â dieses Buch ist eine unglaubliche Entdeckung! Ich musste es jemandem zeigen.«
»Aber ⦠ich verstehe nicht â¦Â«
»Meinem alten Professor an der Universität. Ich habe bei ihm studiert. Er ist Althistoriker und versteht Griechisch besser als ich. AuÃerdem wollte ich herausfinden, ob das Buch echt ist.«
Inesâ Augen sprühten vor Wut. »Sie haben versprochen, auf das Buch aufzupassen! Wie können Sie es da aus der Hand geben?«
Herrn zu Hausen wich ihrem Blick aus. »Wir
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