Ines oeffnet die Tuer
behutsam von der Puppe. Versehentlich schabten ihre Fingernägel über das Plastik, und es gab ein hässliches Geräusch, das sich mit dem Seufzen der Uhr mischte.
Ohne einen weiteren Augenblick zu zögern, drehte sich Ines um und rannte mit dem Kleid aus dem Refugium.
Die Tür fiel hinter ihr ins Schloss. Sie hörte es kaum, denn sie schlüpfte bereits aus ihren Kleidern. Bis auf die Unterwäsche zog sie alles aus â und stieg in das Kleid aus dem Refugium.
Schon als ihre nackten Beine den Stoff berührten, ging ein Schauer durch ihren Körper. Er fühlte sich wunderbar an auf der Haut! Wie eine zarte Berührung, wie ein sanfter Wind an einem Sommertag, wie klares Wasser, wie feinster Sand ⦠nein, es war nicht zu beschreiben. Das Kleid schmiegte sich an ihren Leib, und die Knöpfe auf dem Rücken schlossen sich von allein, als Ines sie mit den Fingerkuppen berührte.
DrauÃen war es schon dunkel, sodass Ines sich in der Spiegelung der Fensterscheibe betrachten konnte.
Das Kleid sah atemberaubend aus. Wie eine zweite, schillernde Haut, leuchtend, warm, elegant, raffiniert â¦
Wenn ich damit zum Fest gehe, dachte Ines, wird mir
jeder
hinterhersehen!
Der Gedanke machte sie fast ein wenig nervös.
Â
37.
Am nächsten Morgen fand der Unterricht nur bis zur vierten Stunde statt. Danach mussten die Schüler alle Räume und Flure der Schule auf Vordermann bringen: Schränke aufräumen, Tafeln putzen, Tische beiseiterücken ⦠in der ganzen Schule herrschte emsige Aufregung. Alle freuten sich auf das Fest, Schüler wie Lehrer. Im Musikraum übte der Chor, die Theatergruppe traf sich zur Generalprobe (darunter auch Sonja), in den Klassenzimmern wurde gebastelt, Stoffe wurden aneinandergenäht, Plakate gepinselt, Schilder gemalt â¦
Ines war voller Vorfreude. Ihre Klasse musste die Aula dekorieren. Zusammen mit Claudi und Lara hängte sie Lampions an den Wänden auf und holte aus dem Technikraum einige Scheinwerfer, die später bei der Disco die Bühne beleuchten sollten. Natürlich wurde viel gelacht, und die Mädchen schwärmten von ihren Kleidern, die sie am Nachmittag tragen würden.
»Ich habe mit meiner Mama ein neues, grünes gekauft«, erzählte Lara. »War ganz schön teuer. Aber es steht mir echt gut. Ihr werdet Augen machen.«
Ines sagte lieber nichts. Sie wollte nicht angeben und hatte ein wenig Angst vor neidischen Blicken. Aber sie konnte nicht aufhören, an das Kleid zu denken.
Ihr
Kleid.
Wenn Karol mich darin sieht â¦
Er war gerade auf der Bühne der Aula und half Frau Wunder, eine Kiste mit Kabeln zu schleppen. Karol trug eine lässige Jeans und ein Golf-Shirt. Ines fragte sich, was er wohl am Nachmittag anziehen würde. Jungs machten sich ja nicht so viele Gedanken über Klamotten, aber neugierig war sie schon. Sie versuchte einen Blick von ihm aufzufangen, aber er war zu sehr mit den Kabeln beschäftigt. Oder er wich ihr wieder aus.
Wenn er mich in dem Kleid sieht, wird er mich schon beachten, dachte Ines. Da wette ich hundert Pferde drauf!
Die Klasse ackerte noch eine Stunde, bis Frau Wunder sie gehen lieÃ. Das Fest sollte am Nachmittag um drei Uhr beginnen. Ines plauderte eine Weile mit ihren Freundinnen an der Bushaltestelle und verabschiedete sich dann.
Warum bin ich eigentlich so aufgedreht?, dachte sie, während sie im Bus aus dem Fenster blickte. Nur wegen des Kleids? Oder doch wegen Karol? Nein, Quatsch ⦠es ist einfach ein besonderer Tag! Ich habe mich so lange auf das Fest gefreut. Und jetzt, wo ich mich wieder mit Sonja vertrage,
kann
es nur groÃartig werden!
»Seht mal, das Auto«, plärrte hinter ihr ein Fünft- oder Sechstklässler. »Ist das nicht der Hammer?«
Ines drehte den Kopf.
Sie sah nur noch das Heck einer Limousine, die eben auf der Gegenspur am Bus vorbeigefahren war. Sie hatte ein schwarzes Nummernschild und ihr Lack glänzte im Sonnenlicht. Schon war sie im Verkehrschaos verschwunden.
»He«, rief Ines dem jungen Schüler zu, der die Limousine zuerst gesehen hatte. »Welche Farbe hatte das Auto?«
Er sah sie verwundert an. »Hm ⦠braun, glaube ich.«
»Nein, golden«, sagte ein anderer Junge.
»Und der Fahrer? Habt ihr den auch gesehen?«
Darauf hatten die Jungs nicht geachtet.
Ines drehte sich wieder um.
Jetzt spinn nicht rum, befahl sie sich. Es wird nicht nur eine Limousine in
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