Infam
Leben war, das sie gelebt hatte, bevor sich unsere Wege gekreuzt hatten.
»Eine Psychiaterin ist auf der Intensivstation vorbeigekommen, um mit mir zu reden«, sagte sie.
»Und …«
»Ich habe ihr gesagt, dass es mein Ende wäre, wenn Tess nicht durchkommt«, erklärte sie. »Ich könnte nicht ertragen weiterzuleben, wenn ich mir vorwerfen müsste, dass ich all das zugelassen habe.«
»Dr. Karlstein kämpft wie ein Löwe um Tess«, versicherte ich ihr.
»Das weiß ich«, erwiderte sie. »Und ich weiß, dass sie durchkommen wird. Ansonsten hätte ich sie nie allein gelassen, nicht einmal für eine Stunde.«
Wir lagen nebeneinander, während Julia schlief. Bevor ich selbst einnickte, ließ ich meine Gedanken drei oder vier Monate in die Zukunft wandern, zu einer Zeit nach Abschluss der Ermittlungen, die, dessen war ich mir sicher, mit Darwin Bishops Verhaftung enden würden. Ich malte mir aus, wie Julia und ich uns ein gemeinsames Leben aufbauten und Billy und Garret nach all den Stürmen, die sie durchlebt hatten, einen sicheren Hafen boten.
Wir wachten gleichzeitig auf. Julia drehte sich zu mir um. »Ich muss wissen, dass wir zusammen sind«, flüsterte sie. »Ich möchte, dass du mit mir schläfst.«
Ich stützte mich auf den Ellbogen und strich ihr das Haar aus dem Gesicht. »Es ist kein guter Zeitpunkt, um etwas miteinander anzufangen«, sagte ich.
»Es hat schon angefangen, als du das erste Mal meinen Arm berührt hast«, erwiderte sie. »An dem Tag, als wir uns vor der Villa begegnet sind, mit Garret.«
»Ich denke nur …«
»Du hast keine Kontrolle darüber, was du für mich empfindest«, sagte sie und blickte auf meinen Unterleib, wo sich meine Erregung deutlich abzeichnete. Sie knöpfte ihre Jeans auf, öffnete den Reißverschluss und führte meine Hand unter ihren Slip und zwischen ihre Beine. Sie war vollständig rasiert, und ihre unbeschreiblich glatte Haut war warm und feucht. »Ebenso wenig wie ich Kontrolle darüber habe, was ich für dich empfinde.«
Julias sexuelles Verlangen trotz der Tatsache, dass sie Brooke endgültig und Tess um ein Haar verloren hatte, beunruhigte mich, während ich mich im Stillen dafür rügte, sie zu verurteilen. Welche Lehrbuch-Reaktion hätte mich denn zufrieden gestellt? Lodernder Zorn? Abkapselung? Wollte ich sie tiefer und tiefer in Depressionen versinken sehen?
In meinem Kopf drehte sich alles. Warum sich Julias Bedürfnissen widersetzen, fragte ich mich, wenn die Götter des Zufalls und der Liebe mir vielleicht meine einzige Chance auf Glück schenkten? Warum mich meinen eigenen Bedürfnissen widersetzen? Ich sah in Julias Augen und ließ meine Fingerspitzen über ihre weiche, feuchte Haut entlanggleiten. Sie stöhnte. Und als sie sich meiner Berührung öffnete, schien es so, als würde mir ein vor langer Zeit verlorener Teil von mir zurückgegeben werden.
Freitag, 28. Juni 2002
Um 1 Uhr 30 fuhr ich Julia zurück zum Mass General. Wir waren noch mal eingeschlafen, nachdem wir uns geliebt hatten. Einige Male sah ich in meinen Rückspiegel, um mich zu vergewissern, dass wir nicht beschattet wurden.
»Machst du dir Sorgen wegen Win?«, fragte Julia.
»Sollte ich das nicht tun?«
»Ich habe mir so lange seinetwegen Sorgen gemacht, dass ich es manchmal vergesse.«
»Warum hast du ihn überhaupt geheiratet? Du sagtest, du hättest gedacht, du würdest ihn lieben, aber warum hast du dich in ihn verliebt? Was hat dich zu ihm hingezogen?«
Sie holte tief Luft. »Ich bin nicht sicher, ob es Win selbst war«, antwortete sie. »Er war charmant, gut aussehend. All das. Aber es ging viel mehr um mich. Ehrlich gesagt, glaube ich, dass ich ihn benutzt habe.«
Das klang ziemlich offen und freimütig. »Inwiefern?«
»Ich stamme aus einer großen Familie«, sagte sie. »Ich habe noch vier Brüder. Dad war Anwalt, wenn auch kein besonders bedeutender. Meine Mutter war eine sehr stille Frau. Eine Hausfrau. Sie hatte keine wirklichen Träume und schien sich nie sonderlich für meine zu interessieren. Darwin war für mich überlebensgroß– zumindest größer als das Leben, das ich zu jener Zeit kannte.«
»Wie war deine Beziehung zu deinem Vater?«, fragte ich.
»Ich habe ihn geliebt, aber er hat den größten Teil seiner Zeit mit meinen Brüdern verbracht – bei ihren sportlichen und schulischen Aktivitäten. Mit vierzehn habe ich angefangen, als Model zu arbeiten, vermutlich, um ihn auf mich aufmerksam zu machen. Das Ganze entwickelte sich wesentlich besser,
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