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Infanta (German Edition)

Infanta (German Edition)

Titel: Infanta (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bodo Kirchhoff
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Rom im August nicht den Rücken kehrten, schaffte er es dann manchmal, eine dieser nicht ans Meer gelangten, zurückgebliebenen, in den leeren Straßen fast gefangenen Römerinnen in seine Wohnung auf dem Gianicolo zu führen. Nur im Ausnahmezustand, auf dem Höhepunkt der Augustglut, wurden aus den geborenen Müttern vorübergehend Geliebte, die mit ihm ganze Nachmittage im Halbschlaf verbrachten. Stunden mit nur ein, zwei wiederkehrenden Geräuschen, dem Schleifen einer Ferse am Betttuch, mattestem Entgegenkommen, oder dem Rutschen trockener Blätter, die ein Lufthauch über seine Terrasse bewegte . . . Im Tal schrien die ersten Hähne, er hörte sie nicht. Schlummernd, träumend, wütend wartete er weiter.
    Wenig später – Kurt Lukas saß wie ein eingenickter Nachtportier auf seinem Balkonstuhl – überflog Butterworth den Rohentwurf des Papiers. Der ganze Ansatz war ihm zu psychologisch, zu vage. Er zerriß die Seiten und versuchte sich auf das Wesentliche zu beschränken. »Mister Kurt hat ein großes Gesicht«, schrieb er mit frisch gespitztem Bleistift. »Schläfen, Stirn und der gerade Ansatz seines Haars bilden ein Rechteck, die untere Gesichtshälfte wirkt dagegen eher gerundet. Erscheint uns die untere Partie fast gelassen, so macht der obere Teil seines Gesichts einen angespannten Eindruck, was nur die dichten dunklen Haare etwas mildern. Im Zentrum dieser Angespanntheit: die Augen. Deren Form bestimmen schräg verlaufende, schmale Lider, die, obwohl sie nach außen hin abfallen, durch den Gegenschwung des Unterlids den Augen etwas Katzenhaftes geben. Damit wäre noch kein Wort über den Blick gesagt. Wer ihn erfassen will, muß die Augenumgebung mit einbeziehen: die an ihren Ausläufern zur Stirn strebenden Brauen und einen Fächer steiler Falten oberhalb der Nasenwurzel, ferner die Schatten unter den Augen.« Der bleiche Priester spitzte den Stift nach – jeder Steckbriefzeichner wäre von dieser Beschreibung entzückt.
    »Was aber ist das nun für ein Blick?« setzte er zu einem Exkurs an. »Er hat etwas Schlafloses, und, wie wir zugeben müssen, auch etwas beängstigend Schönes – wie die Fältchen über der Nase, die uns als Diagramm erscheinen; vier kleine Falten zählen wir zwischen den Brauen von Mister Kurt. Ich. Ich. Ich. Ich.« Butterworth erwog, diese Bewertung zu streichen. Doch er konnte sich nicht trennen davon; er kam zur Nase. »Ihretwegen brauchen wir uns keine Sorgen zu machen. Ein gutes Stück tritt sie gerade und kräftig aus dem Gesicht, geht dann in einen leichten Sattel über und wird angenehm breit. Runde, fast ausladende Flügel beschließen ihre Seiten; an männlicher Wirkung trauen wir ihr allerhand zu. An der Spitze umgibt sie ein Hauch von Hochnäsigkeit, ein Hauch von Brutalität umgibt ihre Löcher. In toto erscheint uns die Nase von Mister Kurt als ein respektables Organ, das etwas Solides und Unsolides zugleich hat, ein Gegensatz, der sich in der ausgeprägten Lippenrinne fortsetzt. Deren Beschaffenheit geht über die reine Funktion, Nasenwasser abzuleiten, hinaus. Sie ist eine deutlich erkennbare Senke. Ein Spalt im Prinzip, der wie alle Spalte zur Erforschung einlädt – die angemessene Verbindung zwischen der Nase und dem Herzstück dieses Gesichts, seinem Mund. Und damit meinen wir nicht den Mund, der zum Aufnehmen von Speise und Trank da ist, sondern allein die Lippen – Lippen, die entweder eine ansprechende Einheit bilden oder bleiben, was sie naturgemäß sind: Schleimhäute. Bei Mister Kurt bilden die Lippen, selbst wenn er mit offenem Mund dasitzt, noch eine Einheit. Sie stehen für sich wie seine Augen und haben denselben kupfernen Farbton; und wie Augen und Nase lassen sie ihre natürliche Funktion fast in Vergessenheit geraten. Für diese Annahme spricht auch der im Grunde sinnlose Spalt in seiner etwas gelangweilt erscheinenden Unterlippe, der sich im deutlichen Kinnspalt noch fortsetzt. Im ganzen gesehen erinnert sein Gesicht mal an einen frechen Hoteldieb, mal an einen kühnen Reporter, mal an einen Salonlöwen, und immer spüren wir dabei, daß ihm jede Geschichte dazu fehlt. Er ist nicht in den Dingen und muß es auch nicht sein; die Dinge heften sich an ihn. Sein Los ist vielleicht eine unbelebte Prägnanz, wie man sie sonst bei minderbegabten Schauspielern antrifft, ein elternloses Zuviel, dem ein inneres Zuwenig entspricht – aber welche Menschen sind geheimnisvoller als die ohne Tiefe?« Erste Sonnenstrahlen streiften das Papier.

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